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Ich weiß, ich war ungerecht gewesen. Ich hätte es einfach akzeptieren sollen, aber ich war so sauer auf ihn! Er schützte mich mit seinem Schweigen nicht, wie er gemeint hatte und vielleicht auch immer noch dachte, sondern regte mich einfach nur wahnsinnig auf. Wie kam er auf die Idee, dass ich mich nicht weiter für seine Probleme interessieren würde? Natürlich tat ich das, wir hatten uns immer alles sagen können und plötzlich wohl nicht mehr? Hatte... hatte Tim mich... vielleicht nicht mehr gern? Vertraute er mir nicht genug, weil er mich... nicht länger liebte? Obwohl ich das eigentlich immer für ausgeschlossen gehalten hatte, fing ich wegen dem Gedanken daran bitterlich zu weinen an und vergrub mein Gesicht in meiner Bettwäsche, die Decke dicht und tröstlich um meinen bibbernden Körper geschlungen. So wollte ich heute eigentlich gar niemanden mehr sehen. Nicht Tim, nicht meine Mom und auch nicht Bibi, aber ich hatte es ihr fest versprochen.

Mit verheulten Augen starrte ich zu meinem Schreibtisch, auf dem die lästigen Hausaufgaben lagen und mich auszulachen schienen. Die mussten heute auch noch fertig werden. Es war doch echt alles zum kotzen! Ich war einfach so fertig...

Das nächste, was ich mitbekam, war, dass unter mir ein Stück fester Untergrund fehlte und ich zu stürzen drohte. Jeder meiner Versuche, mich noch zu retten, scheiterten an der Decke, die mich wie eine Zwangsjacke fesselte. Also kam, was kommen musste. Mit einem lauten Knall und dumpf dröhnendem Kopf schlug ich auf dem Boden auf und stöhnte vor Schmerzen. Sowas konnte wirklich nur mir passieren. Das Kopfkissen segelte hinterher und plumpste als perfekter Abschluss auf mein Gesicht, sodass ich als eine Art riesige verpuppte Raupe vor meinem Bett lag und mich kaum noch selbstständig bewegen konnte. Plus elendige Kopfschmerzen. Was noch? Wie wollte mich mein Leben heute bitte noch weiter ficken? Achja, natürlich, ich hatte die Zeit für das Treffen bereits um fünf Minuten verpennt. Als ich mich endlich befreit hatte, hastete ich zu meinem Handy um Bibi zu schreiben dass es später würde, und stutzte. 21 neue Nachrichten aus zwei verschiedenen Chats, eine von Bibi ("Mach mich jetzt auf den weg, bis gleich stegi ;* ") und die restlichen alle von Tim. Nachdem ich dem Mädchen schnell eine Entschuldigung geschickt hatte, öffnete ich das Gespräch mit meinem Freund, nicht gewappnet für das, was hier alles stehen konnte. Mit gekreuzten Fingern las ich, was er mir geschickt hatte.

"Stegi?"
"Komm bitte zurück"
"Ich brauch dich"
"Du bist doch mein freund"
"Ich würde es dir so gerne erzählen, aber es geht nicht"
"Das musst du mir glauben"
"Es tut mir auch weh, das geheim halten zu müssen"
"Stegi?"
"Was ist los?"
"Bitte komm zu mir"
"Ich halte das nicht aus"
"Bist du schon mit bibi unterwegs?"
"Okay..."
"Tut mir leid, dass ich immer so ein trottel bin"
"Glaubst du mir wenigstens, wenn ich dir sage, dass diese sache unsere freundschaft aufrecht erhält?"
"Du würdest mich mehr hassen, wenn ich es dir erzählen würde. Und deshalb kann ich es dir nicht erzählen"
"Ich vermiss dich..."
"Bitte"
"Erinnerst du dich noch an das versprechen? Dass wir zusammenbleiben, egal was passiert? Auch wenn sich was zwischen uns drängelt. Bitte, ich brauche dich so sehr..."
"Dino...? Warum antwortest du mir nicht? Magst du mich nicht mehr?"

Das alles hatte er innerhalb der letzten Stunde geschrieben. Während der eine Teil von mir das alles voller Besorgnis las, mischte der andere einen fiesen Unterton darunter. Mitleidsmagnet, flüsterte es boshaft, Klammeraffe, Lügenbold, Aufmerksamkeitsfreak, Klugscheißer, Schaumschläger...

Nein! Das war Tim nicht! Er war mein Freund! Alle diese Vorwürfe waren falsch, so falsch wie Dagis fünf Kilometer-Wimpern! Doch obwohl die Anschuldigungen nach und nach aus meinem Kopf verblassten, blieb eine unverrückbar und klar deutlich zurück. Klammeraffe. Und geschlagen musste ich ihr recht geben. Seit letztem Dienstag war Tim wirklich zu einem Klammeraffen geworden. Nirgendwo hatte er mich alleine hingehen lassen, immer hatte er sich an mir festgekrallt und war mir auf Schritt und Tritt gefolgt. Seit "diese Sache" zwischen uns stand, um genau zu sein. Die angeblich unsere Freundschaft bewahrte. Was sollte das denn ach so tolles sein? Eine Sache, die uns immer weiter auseinander riss, die Tim vollständig verändert hatte, die vielleicht sogar dazu geführt hatte, dass er verprügelt worden war und mir und keinem anderen jetzt mehr sagen wollte, wer es gewesen war. Wie sollte das, bitteschön, auch nur irgendetwas wieder retten können?

Mit einem schnellen Blick auf meine Uhr schrieb ich ein simples "Bin mit bibi unterwegs, geht grad nicht" zurück, schnappte meine Jacke und jagte dann zum Treffpunkt.


Noch einmal kam ich der Lösung des Problems nicht so nahe, wie in diesem Moment. Und wieder zog ich genialerweise die komplett falschen Schlüsse. Auch ich war, wie du bereits vor mir, zu weit in das ausgeklügelte Spinnennetz vor uns geraten und alles, was wir taten, beförderte uns nur noch weiter Richtung Zentrum, umwickelte uns mit immer neuen, unabwehrbaren, klebrigen und unbarmherzigen Seidenfäden, die von nun an unserer beide Wege in die Zukunft pflasterten. Ich war blind, du warst stumm. Und wir fanden einfach keine Möglichkeit, einander über diese Hindernisse hinweg zu helfen.

Blinded & Muted (#Stexpert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt