Bibi wartete jetzt schon seid einer halben Woche jeden morgen an Tims Stelle auf mich. Doch statt der Stille, die zwischen meinem Freund und mir normalerweise herrschte, redete das Mädchen immer ununterbrochen auf mich ein. Klar, wir telefonierten schließlich auch nicht jeden Abend vor dem Schlafengehen nochmal miteinander. Schmerzlich fiel mir ein, dass ich ihn gestern nicht hatte anrufen können, da er für die Nacht im Krankenhaus sein Handy ausschalten musste und auch sicherlich bereits geschlafen hatte. Ja, unter diesen Umständen hätten wir zwei beiden heute morgen sicherlich auch eine Menge zu bequatschen gehabt.
"...müsste deine erste Probe für die Clique sein. Ich hab aber keine Ahnung, was das sein könnte, mich haben sie damals noch einfach so aufgenommen."
"Tschuldigung, was ist mit meiner ersten Probe?", fragte ich ertappt und mit einem Anflug von Nervosität in der Stimme. Daran hatte ich ja kaum noch gedacht!
Bibi lächelte mich mitleidig an: "Die ist heute. Hat Tobi gestern Nachmittag so beschlossen. Er wird dir wahrscheinlich noch im Laufe des Tages- ...ne warte, da vorne steht er schon!"
Tatsächlich, Tobi und der Rest der Gruppe wartete bereits vor den Schultoren auf uns und während Bibi von den anderen Mädchen in Empfang genommen wurde, kreisten mich die Jungs mehr oder weniger in ihrer Mitte ein.
"So, du wurdest schon soweit informiert?", fragte der Anführer und ich nickte eingeschüchtert. "Was soll ich denn machen? Ist es gefährlich?"
Rafael hinter mir prustete los, verkniff es sich aber nach einem genervten Blick von Taddl. War das jetzt, weil meine Frage so dumm erschien? Oder weil Specki glaubte, ich wäre zu feige für die Probe?
"Nichts gefährliches", klärte Tobi mich auf, was mein Herz ein wenig beruhigte, "es hat etwas mit dem Unterricht zu tun. Rafi wird dich überwachen und mir am Ende vom Schultag sagen, ob du die Anforderungen erfüllt hast oder nicht. Und zwar sollst du nicht nur ein höriger Teil unserer Gruppe sein, sondern auch jemand, der seine Meinung durchdrücken kann. Besonders bei deiner Größe." Er machte eine kurze Kunstpause. "Und zwar sollst du heute einem deiner Lehrer deine ehrliche Meinung ins Gesicht sagen, nicht in der Pause, sondern in der Stunde vor den Augen aller anderen. Mal sehen ob du den Mut dazu hast!"
Taddl trat wie auf Kommando einen Schritt zur Seite und ich stolperte aus dem Kreis. Das war es also, warum Rafael gelacht hatte, sich aber sonst kooperativ verhielt. ER würde heute seinen Spaß haben, während ich versuchte, die Aufgabe durchzuführen, weil er am Schluss einfach sagen konnte, dass ich keinen Finger gerührt hatte. Er hielt heute den Schlüssel zu meinem Erfolg in seinen Händen. Und ich durfte mich hübsch bei ihm einkratzen, abmühen oder zum Affen machen, das Ergebnis kannte ich ja schon jetzt. Gut gespielt Specki, das musste ich ihm lassen.
Den halben Tag überlegte ich, wie ich die Aufgabe trotzdem abschließen konnte, ohne Rafaels Bestätigung zu brauchen, aber ich kam einfach zu keinem Ergebnis. Die beste Chance hätte ich wohl in der 6. Stunde bei unserer Biolehrerin. Die Frau kümmerte es kein Stück, ob wir zuhörten oder nicht, solange wir anwesend waren und die Klappe hielten, war ihr alles egal. Und ihr die Meinung dazu zu sagen wäre einfach. Ihr Unterricht war gähnend langweilig. Aber bis dahin dauerte es noch eine Stunde.
"Stegi!"
Da wäre nur das Problem mit Rafael. Vielleicht konnte ich jemand anderen aus der Klasse als Zeugen mitbringen.
"Stegi!"
Dann hätte ich Specki ein Schnippchen geschlagen und-
"Stegi!! Konzentrier dich endlich wieder auf den Unterricht! Oder soll ich dir gleich jetzt eine Sechs eintragen?"
Mit hochroten Ohren fand ich langsam zurück in die Wirklichkeit. Direkt vor mir stand unsere Kunstlehrerin und starrte mich zornig an. Ein kurzer Blick um mich sagte mir, dass die ganze Klasse hinter vorgehaltenen Händen kicherte. Fuck, hatte ich etwa die ganze Zeit mit Tagträumen verbracht?
An jedem anderen Tag hätte ich vermutlich gekuscht und mich bei der aufgebrachten Frau entschuldigt. Aber heute brodelte ebenfalls Zorn in mir auf und bevor ich mich kontrollieren konnte, knallte ich meine Handflächen links und rechts auf mein Pult und stand mit einem Ruck vom Stuhl auf: "Hm, eine Sechs? Na dann, machen Sie doch! Sehe ich so aus, als würde mich das groß jucken? Wissen Sie eigentlich, wie erbärmlich Sie als Lehrerin sind? Ich bin raus, ich pfeif auf ihren Unterricht!"
Mit einer lässigen Handbewegung fegte ich meine Federmappe vom Tisch in meinen Ranzen und stockte kurz, als mir bewusst wurde, was ich soeben gesagt und getan hatte. Zu spät, jetzt würde mich keine Entschuldigung der Welt mehr retten. Also konnte ich nur meine eben vorgeführte Rolle weiter durchziehen, meinen Rucksack schnappen und aus der Klasse stapfen, vorbei an Rafael, der sich wohl bei dem Anschiss der Lehrerin zufrieden auf seinem Stuhl zurückgelehnt hatte und dem jetzt die Kinnlade heruntergefallen war. Er merkte nicht einmal, dass er längst die Balance verloren hatte, erst, als er der Länge nach mit lautem Scheppern auf dem Boden aufschlug und verzweifelt mit den Armen ruderte, als würde ihm das jetzt noch helfen. Die Tür zum Klassenraum schloss sich hinter mir und mit dem finalen Klicken rannte ich los, weit weg, raus aus dem Flur, mehrere Treppenstufen auf einmal nehmend nach unten in die Cafeteria, wo ich mich gegen eine Wand sinken ließ und mein Gesicht in meinen Händen vergrub. Was hatte ich da bloß getan? Was um alles in der Welt?! Ich würde in den folgenden Kunststunden auf ewig unter der Last meiner unüberlegten Aussagen leiden... Nicht mal Tim war da, um mich zu trösten oder wieder aufzumuntern!
Meine einzige Hoffnung war jetzt, dass Specki tatsächlich so beeindruckt war wie er ausgesehen hatte und sich zweimal überlegte, ob er Tobi anlog unter dem Risiko, dass sein Anführer über andere Quellen von meinem Erfolg erfuhr. Dann hätte sich mein Wutanfall wenigstens auch gelohnt.
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Blinded & Muted (#Stexpert)
Fanfiction"Ich war blind, du warst stumm. Und wir fanden einfach keine Möglichkeit, einander über diese Hindernisse hinweg zu helfen." Tim und Stegi sind seit ihrem Outing die klassischen Außenseiter. Sie werden gemobbt, geschlagen und beschimpft. Stegi sieht...