Die Zeit verging einmal mehr viel zu schnell und mit einem dumpfen Gefühl in der Magengegend schnappte ich mir Schuhe und Jacke. Tim hatte nicht weiter böse auf meine Absage reagiert, mir nur viel Erfolg beim Basteln gewünscht und war dann offline gegangen. Vielleicht ahnte er, dass ich nicht die Wahrheit sagte, doch dann war er zum Glück verständnisvoll genug, um nicht nachzustochern und sich und mir eine ganze Menge Kummer zu ersparen.
Auch der sonst etwa viertelstündige Weg bis in die vornehmere Wohngegend fühlte sich heute wie ein Katzensprung an und kaum dass ich mich versah, stand ich auch schon vor dem hell erleuchteten Haus und klingelte. Rafi empfing mich mit einem Drink in der Hand, den er mir auch sofort reichte. "Zum Wohl", grinste er leichthin und höflich nippte ich kurz. Natürlich hatte ich mein Versprechen an Tim ja nicht vergessen!
Dafür schien es Bibi schlimm erwischt zu haben. Kein Plan, ob sie sich leicht beschwipst doch einmal in der Mischung vertan hatte, doch sie lag bereits bei meiner Ankunft dösend auf einem der Sofas und als ich zu ihr kam, um sie zu begrüßen, umklammerte sie schnell mit ihrer vom Polster herabhängenden Hand ihr noch halbvolles Glas am Boden und nuschelte etwas, das sich wie "Alles im Griff, alles okay" anhörte. Besorgt wandte ich mich an Dagi, die zwar gerade anfangen wollte, mit Rafi rumzumachen, aber dann trotzdem ein wenig genervt aufhorchte. "Sollten wir uns nicht irgendwie um Bibi kümmern? Nicht dass sie eine Alkoholvergiftung kriegt."
Dagi lachte laut auf und ich roch, dass auch sie bereits das ein oder andere Schlückchen intus haben dürfte. Entgegen meiner Erwartungen krümmte sie keinen Finger, sondern drückte mich einfach an meinem Bauch beiseite, um weiter mit ihrem Freund rumzuschäkern. Tobi hantierte an der Bar und machte sich grade einen neuen Drink, also lag es wohl an mir in die - woah, der absolute Wahnsinn! - unglaublich riesige Küche zu laufen und in den unzähligen Schränken, Schubladen und Körben nach einem sauberen Becher, einem Teelöffel und Salz zu suchen, letzteres in Wasser aufzulösen und es Bibi zu bringen.
"Hey Bibi, guck mal, ich hab dir was leckeres mitgebracht!", pries ich meinen gezinkten Cocktail mit einem bedenklichen Blick auf ihren mittlerweile leeren Drink an. Sie aber schnappte den Köder sofort und streckte bittend ihre schlaffen Arme aus und hätte mir sogar beinahe das Getränk aus der Hand geschlagen, wenn ich nicht schnell einen Meter zurückgesprungen wäre. "Ah ah ah, du musst schon mit mir mitkommen", probierte ich sie davon abzuhalten, von der Brühe direkt in die Wohnstube zu reihern und folgsam wie ein Lämmchen trottete sie mir bis draußen vor die Tür nach. Gierig griff sie nach dem Salzwasser, als wäre es ihr Lebensretter, und trank artig immer weiter, während ich mich dazu bereit machte, ihre Haare vor dem Erbrochenen zu retten. Keine Sekunde später schmiss sie den bunten Becher beiseite, gab ein glucksendes Geräusch von sich und beugte sich im nächsten Moment auch schon vornüber. Kein schöner Anblick. Wirklich echt nicht schön, ein Mädel wie sie so sehen zu müssen, aber immerhin war sie selbst dran Schuld.
"Washastdumirinmeinen, hicks, LongIslandgemacht?", nuschelte sie atemlos als die ersten Worte, nachdem sie sämtlichen Alkohol aus ihrem Körper entfernt hatte. Dann so langsam schien sie sich wieder zu fangen. Sie griff sich an die Stirn: "Ou nein, wie viel hab ich bitte getrunken? Ich bin mir sicher es waren nur zwei kleine Gläser... Sorry Stegi..."
Dann wankte sie auch schon wieder nach drinnen und sofort in die entgegengesetzte Richtung des Wohnzimmers ins Bad, um alle Spuren von gerade eben aus ihrem Gesicht zu waschen. Das konnte dauern falls sie sich noch entschloss, ihr Make-Up zu erneuern.
Tobi wartete mit den anderen beiden im Halbkreis auf den zusammengeschobenen Sitzelementen, zwischen ihnen ein kleiner Tisch mit verschiedenen Flaschen darauf verteilt. Rafi schaute an mir vorbei und als er da keine Bibi sah, fragte er verdutzt: "Hm? Wo hast du sie denn gelassen?"
"Ist noch im Bad, hab mich grad um sie gekümmert und jetzt macht sie sich nochmal hübsch", berichtete ich und ließ mich zwischen Dagi und den Anführer fallen, "So, worum gehts heute Abend?"
Mein Sitznachbar rieb sich zufrieden die Hände: "Letzte Probe! Danach bist du volles Mitglied unserer Gruppe und kriegst wie wir anderen auch alle Lösungszettel von Rafis Bekanntem per Mail zugeschickt. Darüber, dass du aufpasst, an wen du Kopien weitergibst, hatten wir ja schonmal gesprochen. Und bevor es richtig losgeht, kannst du dich auch gerne nochmal ordentlich bedienen, nimm dir was du willst!" Mit seinem Arm machte er eine ausladende Geste über die Abstellfläche in unserer Mitte. Mein Lächeln fror augenblicklich ein. Dagi bemerkte meinen angewurzelten Blick zuerst. "Was is denn los Stegi? Nix davon ist vergiftet, keine Sorge!", lallte sie kichernd. Meine aufgerissenen Augen huschten nur kurz zu ihr, ehe sie sich wieder mit den Schnapsflaschen auf dem Tisch vereinigten. "Wie jetzt, einfach so?", wollte ich hoffnungslos wissen. Tobi nickte.
Scheiße, jetzt saß ich wirklich in der Zwickmühle. Tim würde nie wieder ein Wort mit mir sprechen, wenn ich das Angebot wie von allen Anwesenden erwartet annahm und mich zudröhnte! "Nee, ich halte mich heute mal zurück", machte ich den vorsichtigen Versuch eines Rückziehers und spürte augenblicklich, wie die angenehme Raumtemperatur abkühlte, als hätte ich damit gedroht, die Bullen anzurufen. Rafi starrte mich ungläubig an, Dagi schien meine Worte durch ihren Dunstschleier hindurch ebenfalls verstanden zu haben und Tobi runzelte die Stirn. "Warum das denn nicht?", fragte er mit einem leicht drohenden Unterton in seiner Stimme. Ich schluckte nervös: "Letztes Mal hab ich besoffen Bibi geküsst und Ti-, ähm, ich meine ihr Freund wäre darüber wahrscheinlich nicht sehr glücklich. Ich will nicht, dass das nochmal passiert!" Das war wenigstens zur Hälfte die Wahrheit. Ardy hatte das ganze wieder erstaunlich locker gesehen, als ich ihn nach der Schule fairerweise deswegen angeschrieben hatte. Das passierte halt mal, hatte er gemeint, aber von mir verlangt, dass ich für ihn dieses Mal doch bitte ein wachsames Auge auf seinen Schatz haben sollte. Nur wegen dem Alk, das reichte ihm schon.
Aber Tobi akzeptierte das scheinbar nicht als Begründung. "Wir sind hier untereinander jedermanns Kumpel, vergiss das nicht. Und solche Sachen bleiben auch eigentlich unter uns, außer jemand hat gegen den Kodex verstoßen." Für einen Sekundenbruchteil tauschen die drei einen verschwörerischen Blick aus, doch bevor ich das ganz sicher festmachen konnte, lehnte Rafi sich bereits vor, öffnete eine der Flaschen und zauberte außerdem kleine Shotgläser herbei, die er vor uns auf den Tisch stellte. "Nagut, dann machen wir halt ein Spiel draus. Spielen wir "Ich hab noch nie", jeder hat aber nur drei Finger, sonst dauert das bloß ewig. Alle einverstanden?"
Nicken von allen Seiten, nur ich schüttelte energisch den Kopf. Tim verließ sich auf mich, ich hatte es ihm versprochen! Dafür regte Tobi sich jetzt wirklich auf. "Ich sage, du trinkst ein paar Runden mit, oder die letzte Mutprobe hat sich für dich erledigt!"
Fuck! Davor hatte ich noch mehr Schiss gehabt. Panisch sah ich das winzige Gefäß mit der goldbraunen Flüssigkeit darin an und ordnete verzweifelt meine Purzelbäume schlagenden Gedankengänge. Richtig oder Falsch. Links oder Rechts. Verzicht oder Teilnahme. Vertrauen oder Akzeptanz. Ein Freund oder vier Freunde. Wisst ihr, mein Gehirn war noch nie gut in Entscheidungen. Und das jetzt war vielleicht die wichtigste überhaupt.
Was. Sollte. Ich. Jetzt. Tun?
Es gab die minimale Chance, dass ich aus allem hier rauskam, ohne Tim davon jemals ein Sterbenswörtchen beichten zu müssen. Andersrum ging es dagegen nicht. Hier konnte ich mich nicht am Schnaps vorbeischummeln. Also griff ich nach meinem Glas und zog es bis an meine Knie heran. "Nur drei Finger sagst du Rafi?"
Und damit traf ich nicht nur die wichtigste Entscheidung in meinem Leben, sondern auch die mit Abstand falscheste. Könnte ich die Zeit zurückdrehen zu diesem Punkt, ich wäre aufgestanden und gegangen. Sofort. Ich hätte mich nie wieder mit der Clique abgegeben. Gemeinsam wären wir beide zwar wieder verspottet worden und nur zu zweit gewesen, aber das wäre mir im Nachhinein um Längen lieber gewesen als das, was diese Nacht noch folgen sollte...
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Blinded & Muted (#Stexpert)
Fanfiction"Ich war blind, du warst stumm. Und wir fanden einfach keine Möglichkeit, einander über diese Hindernisse hinweg zu helfen." Tim und Stegi sind seit ihrem Outing die klassischen Außenseiter. Sie werden gemobbt, geschlagen und beschimpft. Stegi sieht...