Nach einem langen und größtenteils durchheulten Tag hatte ich mich dazu entschlossen, aus der Clique auszutreten, obwohl ich die Konsequenzen kannte oder zumindest erahnen konnte. Aber wenn ich noch länger blieb, würde das zwischen mir und Tim niemals wieder hinhauen. Und das wollte ich nicht. Ich wollte ihm beweisen, dass ich die Scheiße, die ich verbockt hatte, wirklich bereute und versuchen, ihn zurückzugewinnen. Ich vermisste ihn so schrecklich, seine Nähe, seine aufmunternden Worte, sein Lachen, das Gefühl von Geborgenheit, das er mir gab. Und ich brauchte ihn so dringend.
Bibi wartete am nächsten Morgen vor meinem Haus, aber ich ging kommentarlos an ihr vorbei. Sie alle konnten mich mal. "Stegi! Stegi, jetzt warte doch bitte mal! Ich muss dir etwas sagen, bitte!", jammerte sie, als ich immer noch nicht anhielt und sie stattdessen weiterhin ignorierte, "Halt an, bitte, es ist wirklich wichtig!"
Hah, ja, super witzig. Ich hatte ihr vertraut und sie und ihre Freunde hatten mich hintergangen, und selbst jetzt glaubte sie noch, dass ich etwas mit ihr zu tun haben wollte. Ich hielt tatsächlich an, drehte mich zu ihr um und fauchte: "Ich muss dir auch noch was wichtiges sagen! Und zwar, dass wir nicht länger befreundet sind! Ich werd heute aus eurem kleinen Scheißverein austreten, hm, was sagst du jetzt?"
Wütend wollte ich weiter, doch ihre nächsten Worte durchschnitten mir das Herz. "Du darfst nicht aussteigen Stegi. Wenn du jetzt gehst, werden sie dich genauso verprügeln, wie sie es mit Tim gemacht haben!"
W-was?! Das waren auch sie gewesen? Bibi legte mir vorsichtig eine Hand auf die Schulter, als sie merkte, wie ich zitterte, aber nicht wie sie vielleicht glaubte vor Angst, sondern vor ungebändigtem Zorn. Blitzschnell wirbelte ich herum, packte mit der einen Hand ihren Arm, mit der anderen umschloss ich den Kragen ihrer Strickjacke und zog sie in dieser verschreckten Haltung so nahe an mein Gesicht heran, dass ich ihren stockenden Atem auf meiner Haut spüren konnte. "Du wusstest es?! Du wusstest es die ganze Zeit und hast es nie für nötig gehalten, mir das zu erzählen?", schrie ich sie mit sich überschlagender Stimme an und konnte zeitgleich praktisch sehen, wie sie unter meinem Wutausbruch winzig klein in sich zusammenschrumpfte. Schützend hielt sie sich ihren freien Arm über den Kopf und wimmerte. Erst langsam und allmählich wurde mir klar, dass ich sie eventuell beinahe noch geschlagen hätte für ihr plötzliches unterwürfiges Verhalten und zwang mich, das völlig aufgelöste Mädchen wieder loszulassen. Wenigstens am Kragen, den Ärmel hielt ich vorsichtshalber noch fest, sollte sie versuchen wegzurennen. Ich wollte endlich die Wahrheit wissen, die ganze, ungeschminkte, komplette Wahrheit über alles, was sich in den letzten Wochen abgespielt hatte. Aber nicht mit Gewalt, ich hatte schon viel zu viel Schlimmes angerichtet, da brauchte ich nicht auch noch eine übel zugerichtete Bibi auf der Liste dieser Dinge.
"Okay", beruhigte ich mich selbst mit einer Reihe tiefer Atemzüge, bevor ich fortfuhr, "du hast jetzt die Möglichkeit, mir alles zu sagen, was du weißt. Wenn du jemals in mir einen echten Kumpel gesehen hast, dann lüg mich jetzt besser nicht an. Was habt ihr mit Tim gemacht und seit wann bist du darin eingeweiht?"
Mein Gegenüber nickte hektisch, senkte langsam ihr Schutzschild und schaute mich schniefend an. "Ich weiß es seit der letzten Party. Erinnerst du dich noch, wie du mich wieder auf die Beine bekommen hast, nachdem ich schon komplett zu war? Das war Rafis Verschulden, er hat mir einen viel zu starken Cocktail gemixt, der sogar Taddl umgehauen hätte. Sie wollten mich ausknocken, damit ich dich nicht von der Mutprobe abhalten konnte. Du hattest zu dem Zeitpunkt schon lange geschlafen, da haben Rafi und Tobi plötzlich angefangen über ihre Pläne zu erzählen. Ich musste so tun, als wäre ich noch immer benebelt und hab erfahren, dass sie an dem Tag darauf, als du das erste Mal bei uns gestanden hattest, nachmittags bei Tim gewesen waren und ihm gedroht haben. Sollte er dir irgendetwas darüber verraten, was sie ihm antaten, dann würden sie sich stattdessen um dich kümmern und dir so sehr zusetzen, dass du nie wieder ein Wort über deine Lippen bringen würdest. Genau so hatten sie es formuliert. Seitdem waren sie fast jeden Tag bei Tim, haben ihn wann immer du nicht da warst geschlagen und ihren Frust an ihm ausgelassen. Er durfte dich nicht davon abhalten, zu uns zu kommen, er durfte nichts gegen uns sagen, er konnte am Ende gar nichts mehr tun, ohne dich in Gefahr zu bringen. Dass er zuletzt alles riskiert hatte, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, hat vor allem Rafi gar nicht gefallen. ER hatte Tobi die Idee gegeben, dich betrunken bei deinem Freund anrufen zu lassen. Taddl war nicht da gewesen, weil er sich an dem Tag um Tim kümmern sollte. Und Dagi steckt da auch mit drinnen. Sie hat uns auf die Befehle der Jungs hin die ganze letzte Woche beschattet und andauernd Fotos von uns gemacht, die uns zusammen gezeigt haben, um sie anschließend an Tim zu schicken. Mir hatten sie anfangs immer gesagt, dass ich mir dir reden soll, so viel wie möglich, damit du dich in unsere Gruppe einfindest und dich wohlfühlst. Ich hatte keine Ahnung, ansonsten hätte ich niemals das Ablenkungsmanöver für die Jungs gespielt. Die haben alles durchdacht. Jeden noch so winzigen Part, jedes Detail das hätte schiefgehen können. Nur dass ich sie vorgestern direkt vor ihren Augen belauschen könnte, hatten sie nicht bedacht. Wir müssen jetzt zusammenhalten und einen Weg suchen, um die Clique ein für allemal unschädlich zu machen!"
Hilfesuchend schaute sie mich an, doch ihre Worte und Blicke erreichten mich nicht mehr ganz. Es fühlte sich an, als steckte ich in einem Kokon aus Watte, der mich einengte, mein Blickfeld verdunkelte und mir meine Sinne raubte. Bevor ich das komplette Gefühl über meinen Körper verlor, glaubte ich Tim vor mir zu sehen, abgemagert wie damals im Krankenhaus mit dem gequälten Gesichtsausdruck, während er flüsterte: "Du warst so blind... Warum hast du es nicht sehen können? Warum nicht, Stegi? Stegi... ...Stegi..."
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Blinded & Muted (#Stexpert)
Fanfiction"Ich war blind, du warst stumm. Und wir fanden einfach keine Möglichkeit, einander über diese Hindernisse hinweg zu helfen." Tim und Stegi sind seit ihrem Outing die klassischen Außenseiter. Sie werden gemobbt, geschlagen und beschimpft. Stegi sieht...