Doch dieser Tag sollte anders werden als alle Tage zuvor, er sollte noch einen großen Schock für die junge Wölfin bereit halten...
Zwar war es laut Kalender immer noch Spätherbst, doch Caprice hätte schwören können, dass es mindestens Dezember war - zumindest den heutigen Temperaturen nach zu urteilen. Und ganz allgemein schien das Wetter ihre Einschätzung zu teilen. Nicht selten brachen Hagel- oder Graupelschauer über das beschauliche Tal Thales hinein, das Caprice als ihre Heimat bezeichnete. Unangenehm fühlte sie sich an den Tag erinnert, an dem sich ihr kleiner Sohn zum ersten Mal verwandelt hatte. In dem Moment, als sie daran dachte, bemerkte sie erst, wie kurz das alles doch zurücklag... Und doch hatte sich so viel in einigen Wochen geändert: sie war der Alpha des Rudels, Riley war tot und... sie war abgemagert bis auf die Knochen.
In ihrer menschlichen Gestalt konnte sie ihre Unterernährung durch dicke Pullis und Jacken noch gut verbergen, doch in ihrer Wolfsgestlat war dies nahezu unmöglich. Nun könnte man sich fragen, wie sie in so kurzer Zeit so stark abgenommen haben konnte. Nun, eigentlich war es ganz einfach: dadurch, dass das Wetter dermaßen schlecht war und kaum einer der Wölfe ihres Rudels noch Beute im Wald fand, war das Rudel dazu gezwungen, sich von ihren Vorräten zu ernähren. Und die bestanden größtenteils aus eingelegten Früchten, getrocknetem Fleisch, trockenem Brot und ähnlichem.
Aus diesem Grund hatte Caprice von allen anderen unbemerkt ihre eigenen Rationen auf ein absoulutes Minimum gekürzt, um allen anderen Rudelmitgliedern ein wenige mehr zur Verfügung zu stellen. Das Gleiche hatten auch - wenn auch mit ihr abgesprochen - ihr beta und drei der anderen wichtigsten Wölfe des Rudels gemacht. Natürlich hatte sie diesen nicht erlaubt, ihre Rationen so weit wie ihre eigenen zu reduzieren, da sie nicht wollte, dass irgendeiner von ihnen hungerte. Bei sich selber machte sie da allerdings eine Ausnahme; den zeitweise nagenden Hunger verspürte sie schon kaum noch.
Das Ergebnis ihrer Entscheidung war nun, dass sie auf ihren Jagdmissionen noch stärker als üblich fror - vor allem heute, da der ganze Wald von Nebel erfüllt war. Trotz der einzelnen Sonnenstrahlen, die durch die dicke Wolkendekce auf den Boden fielen, wärmte sich der Boden kaum auf. Mittlerwile war Caprice sogar so verfroren und erschöpft, dass sie nicht einmal mehr die wie Edelsteine funkelnden bunten Blätter an den Bäumen beachtete. Doch unbeirrt lief sie weiter; vielleicht konnte sie ja doch noch ein wenig Beute finden.
Um ein vielfaches schreckhafter geworden durch die Meldungen aus dem Westen, dass eines der größeren Rudel in ihre Richtung unterwegs war und in ihr Gebiet einzubrechen versuchte, riss Caprice panisch die Augen auf, als vor ihr in einem Gebüsch etwas knackte und sprang nur Sekunden später erschrocken in die Luft, weil eine Eule, ihren Schrei ausstoßend, aus dem Gebüsch flatterte. Nur kurze Zeit später durchfuhr sie plötzlich das unbeirrbare Gefühl, dass ihr Sohn in Gefahr war. Zwar versuchte sie es als schwachsinnige Angst abzutund, doch ihre Ahnung wollte einfach nicht schwinden und so drehte sie schließlich abrupt um und hetzte zurück in Richtung des Dorfes.
Ihre Pfoten flogen geradezu über den Waldboden, als Caprice so schnell, wie ihr geschwächter Körper es zuließ, durch den Wald in Richtung ihres Zuhauses lief. Das Knacken der Äste an den Bäumen und das Rascheln der abgefallenen Blätter unter ihren Pfoten spornte sie zu einem immer höheren Tempo an, bis sie schließlich eins mit dem Wind wurde. Nur wenige Minuten zuvor hatte sie die Stille im wald noch genossen, nun machte sie ihr Angst, genauso wie die große Distanz, die sie scheinbar in Gedanken versunken zurückgelegt hatte, ohne es zu merken, und die sie jetzt von ihrem Ziel trennte.
Auf einmal hörte sie es: das Heulen eines fremden Wolfes. Und es kam genau aus der Richtung, in der ihr eigenes Rudel sein Dorf liegen hatte. Wie konnte das sein? Die Magie, die über ihrem Gebiet lag, sollte sie doch eigentlich vor dem Eindringen fremder Wölfe in ihr Gebiet schützen! Da kamen ihr wieder die Worte ihrer alten Meisterin in den Kopf. Hatte Cecilia nicht gesagt, die Magie würde stärker? Doch sie hatte auch noch etwas anderes gesagt: "Wenn die Nacht sich erhebt, wird diese Magie uns noch nutzen. Schütze sie gut, Jägerin. Deine Krallen sind scharf und dein Verstand klar; nutze deine Gaben, um dem Rudel zu dienen, doch behalte eines im Kopf: vernachlässige nie dein Herz und die Liebe, denn sie ist wohl deine stärkste Waffe."
Ja, das waren ihre Worte gewesen. Hatte sie den Schutz ihres Rudels vernachlässigt? War es das, was Cecilia ihr vor einigen Wochen hatte sagen wollen? Das sie den Schutz des Rudels und der geheimnisvollen Magie über alles andere stellen musste? Oder war dies alles nur ein unglücklich Zufall und es war gar nicht ihre Schuld, dass das Rudel angegriffen wurde?

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Nachtjäger
Werewolf"Du wagst es mir zu drohen?", knurrte der große Wolf bedrohlich. Bis zu dieser Nacht hatte es niemand je gewagt, sich ihm entgegenzustellen. "Ja.", knurrte die schwarze Wölfin als Antwort, spannte ihren Körper an und sprang. Die 22-Jährige Caprice...