Kapitel 27

3.5K 236 4
                                    

Sichtwechsel Lucas

Behände hangelte sich Caprice vor ihm die Steilwand hinauf. Zwar rutschte sie das eine oder andere Mal an dem vom Moos glitschigen Stein ab, doch sie war trotzdem erstaunlich schnell. Allerdings war das hier ausnahmsweise ein Punkt, bei dem Lucas ohne weiteres mithalten konnte. Denn wenn er etwas wirklich gut konnte, dann war es Klettern.

Eilig packte nun auch Lucas den untersten Vorsprung und zog sich daran hoch. Mühelos kletterte er seiner Seelengefährtin hinterher - zumindest bis von oben ein Felsbrocken angeflogen kam. Schnell duckte er sich weg und rief empört nach oben: "Hey! Pass auf, unter dir klettert noch jemand und ich würde ungern einen Stein auf den Kopf bekommen!" Leises Lachen erklang etwa drei Meter über ihm, dann antwortete Caprice ihm belustigt: "Dann musst du dich eben wegducken! Ich habe dir doch gesagt, dass diese Steilwand hier lange nicht mehr angerührt wurde!" Er brauchte einen Moment, um sich aufgrund ihrer Unverschämtheit wieder abzuregen, dann fragte er: "Wie weit hast du es noch bis oben?"

In diesem Moment verschwand Caprice aus seinem Blickfeld und antwortete auch gleich darauf: "Bin oben!" Nun legte er noch einmal einen Zahn zu und überwand die letzten zwei Meter innerhalb weniger Sekunden. Als er sich über die Kante schob, fiel sein Blick sofort auf die grinsende Caprice, die schon wieder auf ihren Füßen stand und ihn jetzt beobachtete. Als sie dann auch noch zu kichern begann, knurrte er ungehalten: "Was?" Sie lachte: "Es sieht super lustig aus, wie du dich da so unbeholfen nach oben hiefst!" "Bitte was? Das war ja wohl total elegant!", entgegnete er eingeschnappt.

Sofort verstummte Caprice' Lachen. "Ich hab es nicht so gemeint...", fing sie vorsichtig an.  "Doch, du hast es genau so gemeint.", schnitt Lucas ihr das Wort ab, schob aber in dem Moment, in dem er ihren verletzen Gesichtsausdruck bemerkte, hinterher: "Aber ich verzeihe dir. Ich kann dir sowieso nicht lange böse sein..." In ihren Augen konnte er die Dankbarkeit schimmern sehen, bevor sie sich umwandte und sich wieder in Bewegung setzte. Nun allerdings eilte sie nicht mehr voran, wie noch vor wenigen Minuten. Im Gegenteil setzte sie jeden Schritt mit Bedacht, achtete darauf, auch das kleinste Geräusch zu vermeiden. Nach einigen Metern wandte sie sich nach rechts, arbeitete sich langsam in ein dichtes Tannengebüsch vor und winkte ihn zu sich, während sie gleichzeitig einen Finger auf die Lippen legte und ihm somit absolutes Schweigen bedeutete.

Lucas versuchte ihr zuliebe besonders leise aufzutreten, konnte aber das ein oder andere Rascheln nicht vermeiden. Als er sich umsichtig mit ins Gebüsch schob und durch eine kleine Lücke in den Tannenbüschen blickte, stockte ihm der Atem. Caprice' Beschreibung des "Dorfes" war noch untertrieben gewesen. Vor seinen Augen erhob sich eine mächtige Festung, die wirkte, als entstamme sie geradewegs dem Mittelalter. Innerhalb der sicher vier Meter hohen Verteidigungsmauer erhoben sich Wachtürme gen Himmel und dem scharfen Auge konnten auch die diversen Alarmanlagen rund um die Mauer nicht entgehen.

Entgeistert blickte er die neben ihm kniende Caprice an. Die unausgesprochene Frage, wie zur Hölle sie beide dort unverletzt hinein und wieder hinaus kommen sollten, stand deutlich in seinen Augen.

NachtjägerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt