Kapitel 2

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Er kam immer näher und ich drückte mich zitternd vom Stuhl weg, um ihm entgegenzukommen. Er sah abgekommen aus. Seine Smaragdgrünen Augen hatten ihren Glanz verloren, sein Bart war lang und ungepflegt, er hatte starke Augenringe und sein sonst so makelloser Körper hing leblos hinunter.

Vorsichtig kam er auf mich zu und drückte mich zart an sich heran, umfasste meine Taille mit seinen starken Armen, sodass ich mich geborgen fühlte und mir diesmal sicherlich vor Freude die Tränen kamen. Einen Moment lang schwiegen wir beide, bis er mir ein "Özge." ins Ohr hauchte, welches seine Stimme zerbrechlich wirken ließ und ich in seine mit Tränen gefüllten Augen blickte.

"Prensesim (meine Prinzessin)" hauchte er mir erneut ins Ohr und mit jedem Wort, das aus seinem Mund kam wurde mir schlechter, da seine Stimme sich so sehr verändert hatte und ich drückte ihn näher an mich heran, indem ich meine Arme um seinen Hals schlang, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. Ich genoss diese Nähe und seit Wochen empfand ich zum ersten Mal wieder ein Gefühl von Glück, was in mir brodelte. Keiner von uns beiden wollte sich von der leidenschaftlichen Umarmung lösen, bis er sich schließlich entfernte und mir einen Kuss auf die Stirn gab.

Ihn so zu sehen machte mich fertig und es tat in meinem Herzen weh, mein Held. Mein großer Bruder und mein ewig treuer Begleiter, der nun hinter Gittern saß, unschuldig!

Er führte mich zum Stuhl und forderte mich auf, Platz zu nehmen. Eine Weile starrten wir uns wortlos in die Augen, bis ich ein Gespräch startete.

"Abi (großer Bruder), wie geht es dir?"

"Mir geht es gut, mein Engel. Wie geht es euch?"

"Mir geht es auch gut, bei Anne (Mama) und Özlem weiß ich nicht."

Er seufzte laut.

"Du sollst wegen mir nicht den Kontakt zu deiner Familie abbrechen."

"Ich will es aber."

Mit einem ernsten Blick musterte er mich und grub schließlich sein Gesicht in seinen Händen ein, woraufhin ich eine Träne zu Gesicht bekam, die auf den Tisch prallte.

"Abi, starke Menschen weinen nicht.", ich munterte ihn mit den Worten auf, die er bisher immer zu mir gesprochen hatte, und lächelte.

Er hob seinen Kopf und sah mir tief in die Augen. Er lächelte. Dieses Lächeln war ein Geschenk für mich. Ein richtiges Lächeln, es war keineswegs gezwungen oder unecht. Es machte mich glücklich und vor Freude lachte ich laut los. Als er mich glücklich sah, lächelte er sofort mit mir um die Wette und das Gefühl war unbeschreiblich schön. Wir lächelten, als wären wir frei. Als würden uns keine Mauern trennen und als wäre nichts vorgefallen, wir genossen es.

"Wann ist der Prozess?", fragte ich in einem lauteren Ton, er schluckte.

Vergebens wartete ich auf eine Antwort, doch es kam nichts.

"Du bist mir noch eine Erklärung schuldig", gab ich nun leise von mir.

Er schnaubte auf.

"Ich kann nicht, mein Engel. Warte ab bis zum Prozess, es sind nur noch ein paar Monate. In ein paar Monaten werden wir uns sicher sein können, dass ich unschuldig bin. Du glaubst an mich, und das weiß ich. Du hast es immer getan und eine bessere Schwester hätte ich niemals haben können"

Diese Worte zu hören rührte mich, doch ich wollte nicht weinen. Ich vertraute ihm und dafür würde ich eine Ewigkeit warten und mich gedulden.

"Versprich mir eins, Özge."

Ich nickte.

"Halte dich von Tolgas Leuten fern, falle nicht auf sie herein, lass dich nicht manipulieren. Du bist stark, du bist selbstbewusst und du bist nicht naiv!"

Ömür Boyu (Ein Leben lang)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt