Als ich am nächsten Morgen aufwachte, ging mir sofort der Gedanke durch den Kopf, dass heute der zweite Prozess sein würde. Ich war ziemlich aufgeregt, heute würde mein Bruder entweder entlassen werden oder aber er müsste endgültig ins Gefängnis. Ich versuchte ausnahmsweise die ganzen Vorfälle mit Bugra zu ignorieren und an diesem Tag, der mich ziemlich starke Nerven kostete, einzig und allein an meinen Bruder zu denken. Ich verdrängte alle Gedanken, die mir bezüglich Bugra in den Sinn kamen, auch wenn das ziemlich schwer war. Schlussendlich rappelte ich mich auf und ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es neun Uhr war. Wir hatten also noch ausreichend Zeit, weshalb ich in das Wohnzimmer schritt und leise den Türspalt öffnete, um nach Umut zu sehen. Er saß bereits auf dem Sofa und telefonierte, sein Gesichtsausdruck war dabei ziemlich angestrengt und auch genervt, aufmerksam lauschte ich. "Nein, eure Entschuldigung kommt zu spät. Meinetwegen habt ihr angefangen Özge zu hassen, nur weil sie immer zu mir stand."
Telefonierte er da mit unserer Mutter, oder mit Özlem? Es klang stark danach, ich setzte mich neben ihn und lauschte weiter. Man konnte die aufgebrachte Stimme unserer Mutter durch den Hörer deutlich vernehmen, jedoch verstand ich ihre Worte nicht. "Ja, heute ist der zweite Prozess ... Mhm ... Ja ... Nein ... Wie gesagt, das war ein zu großer Fehler ... Ich bin dein Sohn, was fällt dir ein? Eine Mutter sollte immer für ihren Sohn da sein, warst du das? ... Warst du nicht, erzähl mir keine Lügen!" Somit legte er auf und schnaubte ziemlich laut auf. "Verfickte Scheiße, man!", schrie er nahezu zu laut und kickte gegen das Sofa. "Abi, bleib ruhig. Wir brauchen die nicht, reg dich wegen denen nicht auf. All die Jahre haben wir uns gemeinsam durch das Leben gekämpft, nur du und ich. Baba wäre stolz auf uns." "Baba ist stolz auf uns, Prensesim. (Meine Prinzessin) Da bin ich mir sicher." Liebevoll umfasste er meinen zierlichen Körper mit seinen starken Armen und verleihte mir dieses tolle Gefühl von Geborgenheit. "Er würde aber auch nicht wollen, dass wir uns mit unserer Familie streiten." "Die sind nicht unsere Familie.", zischte ich. "Wenn Baba noch da wäre und wenn er sehen würde, zu was unsere ach so tolle 'Familie' fähig ist, dann würde auch er wie wir handeln."
Bei den ganzen Erinnerungen an meinen geliebten Vater spürte ich wieder einmal Tränen, die mir das Gesicht hinunterkullerten und einen ungemein stechenden Schmerz in meiner Brust. Zaghaft nahm mein Bruder mein Gesicht in seine Hände und wischte mir die Tränen mit seinen Daumen weg. "Sei stark, Baba ist immer bei uns. Und zwar genau hier .. und hier." Dabei tippte er erst auf meine linke Brust, und anschließend auf seine, um
zu demonstrieren, dass mein Vater jederzeit in unserem Herzen weiterlebte. Letztendlich verpasste er mir einen sanften Kuss auf die Wange und ich begab mich in die Küche, um Frühstück vorzubereiten. Als ich fertig war, rief ich nach Umut, welcher kurz darauf im Türrahmen erschien und sich zu mir gesellte. Er gab einige Geräusche von sich, die in etwa so klangen, als würde er eine Vorfreude auf das Essen entwickeln. Somit brachte er mich auch zum Schmunzeln und lachend machten wir uns ans Essen. Wir sprachen über alltägliche Themen und die übliche Vertrautheit zwischen uns war wie zuvor noch immer da und keineswegs geschwächt oder gar verschwunden. Wir verstanden uns so gut wie immer und das bereicherte mich."Ich habe mich wieder bei der Uni eingeschrieben, die nehmen mich.", schmatzte mein Bruder daher. Ich ließ einen Freudesschrei ertönen und lobte ihn. "Das ist ja super! Dann kannst du nach dem Urlaub einfach so mit deinem Studium weiter machen?" Er nickte stolz und erneut kreischte ich auf.
Ich war sehr stolz auf Umut, da er Jura studierte und einen Einserdurchschnitt hatte, das sollte mal einer schaffen! "Bleib mal ruhig.", prustete er los und ich stimmte mit ein, ach wie hatte ich unsere gemeinsamen Albereien vermisst.
Die Zeit verging recht schnell und wir befanden uns bereits in meinem Auto, welches mein Bruder fuhr. Ich war sehr aufgeregt, wohingegen er komischerweise ziemlich lässig und ruhig war. War er denn überhaupt nicht nervös? Schließlich ging es hier um seine Freilassung. "Abi, bist du eigentlich nicht aufgeregt?" "Wieso sollte ich? Dadurch machst du dir nur unnötigen Stress mein Engel, beruhig dich etwas. Es wird schon nicht schief gehen, die haben bereits ein halbes Geständnis hingelegt." Er legte seine Hand behutsam auf meine, ohne einen einzigen Blick von der Straße abzuwenden und hob sie im nächsten Moment, um einen Kuss auf meinen Handrücken zu drücken. Ich kicherte leicht und merkte dabei, wie ein Teil meiner Nervosität verflogen war, ich dankte ihm so sehr. In solch einer Situation konnte er mich beruhigen, mein Held.
Während der Autofahrt bekam Umut einen unerwarteten Anruf von einer uns unbekannten Nummer. Er hob ab und ich lauschte bloß dem Telefonat. "Ja, hallo Herr Krause.." Hieß nicht Umuts Rechtsanwalt so? "Ja.. ich bin gerade auf dem Weg .. okay .. das hätte ich jetzt ehrlich gesagt- .. achso .. okay .. Wiederhörn!." "War das dein Anwalt?" Umuts Lächeln war augenblicklich erlöscht und er sah mich bloß starr an. Er nickte leicht und nun wurde ich umso neugieriger. "W-was hat er denn gesagt?", fragte ich ruhig. "Es wird keinen zweiten Prozess geben. Es gibt einfach zu wenige Beweise für meine Unschuld, sie haben alle gegen mich ausgesagt.. Ich muss wieder in den Bau." Mir stockte der Atem und ich spürte mein Herz wie wild gegen meine Brust hämmern, war das ein schlechter Scherz? Mir lief ein eiskalter Schauer erbarmungslos über den Rücken. Es schien alles so gut und jetzt sollte er? Nein, das durfte nicht passieren. "W-wie, ist das dein ernst?" Er nickte vernehmlich. Diese Nachricht fügte mir unfassbar starke Schmerzen in der Brust zu, mir wurde übel, sehr übel.. Ich schwieg, ich wollte es nicht glauben. Mein Bruder hingegen sah mich erwartungsvoll mit seinen wunderbaren grünen Augen an, welche förmlich glitzerten und plötzlich fuhr er in eine scharfe Kurve und parkte am Straßenrand. "Spaß man, ich bin ein freier Mann!", jubelte er euphorisch. Der folgende Freudesschrei meinerseits war mehr als laut, mehr als unfassbar laut. So laut, dass ich mir beinahe die Seele aus dem Leib schrie, er hatte mich reingelegt, dieser Idiot! Ich fiel ihm sofort um die Arme und wir beide konnten unser Glück nicht fassen. "Die haben gestanden. Es war Tolga und die ganze Wahrheit wurde erzählt, deshalb ist kein zweiter Prozess mehr nötig, ich muss mich nur Morgen kurz mit Herr Krause treffen, damit wir die Unterlagen und so nochmal durchgehen." Er war unschuldig, ich hatte es von Anfang an gewusst. "Das müssen wir feiern!", rief er nach einer gefühlten Ewigkeit, die wir uns wie kleine Kinder gefreut hatten. "Aber Hallo!", schrie ich noch immer und wählte sofort zahlreiche Nummern auf meinem Handy. Ich scrollte in meiner Kontaktliste herunter und als ich an dem Namen 'Bugra' vorbeiscrollte, schlug mein Herz plötzlich schneller und dieses mir allzubekannte Kribbeln bildete sich in meinem Magen. Ich lud einige Freunde von uns zu einer kleinen Grillparty ein und glücklicherweise sagten alle zu. Ich konnte mein Glück nicht fassen, wow! Er war wirklich frei. Die nicht allzu lange Zeit, die er in Untersuchungshaft saß, war eine sehr schwere Zeit für mich. Ohne ihn hatte ich keine Lebensfreude, er gehörte mitunter zu dem Sinn meines Lebens, mein liebster Bruder.
Wir befanden uns nun an einem kurzfristig gemieteten Grillplatz und unsere Freunde waren zahlreich erschienen, was uns selbstverständlich sehr viel Freude bereitete. Es war zwar alles spontan geschehen, doch im Großen und Ganzen war es ein gelungener Abend. Die Jungs waren die Grillmeister und auch beim Essen machten wir alle gemeinsam Späße miteinander und wirklich jeder einzelne freute sich über Umuts Entlassung. Die Stimmung und die Atmosphäre waren von Lust geprägt und es bereitete uns sehr viel Spaß, dieser Abend miteinander. Alle verstanden sich blendend und harmonierten perfekt miteinander. Nur ein einziger Gedanke war es, der mich innerlich zerfraß und der jedes Mal, wenn er mir in den Sinn kam, meine Freude vertrieb. Richtig, es war der Gedanke an Bugra. Ich hatte ihn heute nicht gesehen, was war denn nun mit ihm passiert? Ich dachte nicht daran, dass er nun auch ins Gefängnis gehen müsste, denn soweit ich wusste, war er an der ganzen Mordgeschichte und an dem Kriminalfall keinswegs beteiligt., was mich zugegeben sehr erleichterte.
Im Laufe des Abends geschahen ziemlich lustige Dinge und alle hatten glücklicherweise gute Laune. Ich war gerade mit Tuna am Reden, als auf dem Parkplatz des Grillplatzes ein Auto parkte und sich alle Blicke darauf richteten. Ich stand auf und ging näher an das Auto heran, um die Person darin erkennen zu können. Als plötzlich meine Mutter aus der Beifahrerseite und Özlem aus der Fahrerseite ausstiegen, stockte mir der Atem und mich überkam eine ungewollte Wut. Was suchten sie hier?
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Die Geschichte neigt sich langsam dem Ende. Ich hatte eigentlich gehofft, dass ich sie vor dem Urlaub noch beenden würde aber in zwei Tagen schaffe ich das leider nicht mehr. Ich muss jetzt einfach dranbleiben und wie eine Maschine Kapitel schreiben, damit ich wenigstens ein bisschen zu posten habe im Urlaub :D
Ein ausführliches Feedback ist selbstverständlich jederzeit erwünscht, ich danke euch im Vorraus für die Kommentare und Votes.
Mfg, cankurban58 ♥
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Ömür Boyu (Ein Leben lang)
Romance"Rede doch mit mir.", sein Atem prallte auf mein Gesicht, wodurch sein ekelhafter Mundgeruch in meine Nase einzog. Mein Herz raste wie wild, was wollte er von mir? Die Angst stieg immer weiter in mir auf. Er kam immer näher und immernoch versuchte i...