Kapitel 11

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Ich würdigte ihn keines weiteren Blickes während der Vorlesung, eher widmete ich mich meinem Professor. Ich musste besonders gut aufpassen aufgrund der anstehenden Semesterprüfungen. Eine Langweile empfand ich zwar, jedoch schrieb ich eifrig mit. Tuna konnte ich einige Male aus dem Augenwinkel heraus beobachten, wie er rüber zu mir sah. Er wippte auf seinem herunterklappbaren Stuhl auf und ab, was eine gewisse Anspannung und eine unangenehme Nervosität zu Ausdruck brachte.
Als die Vorlesung am Ende angelangt war, stand ich auf, ohne mich mit jeglichen anderen Leuten zu unterhalten und verschwand rasch aus dem Saal. Erleichtert darüber, dass dies meine einzige Vorlesung an diesem Tag war, stieg ich in mein Auto und fuhr los. Wohin? Das wusste ich selber nicht. Ich irrte herum, bis ich schließlich beschloss, mich mit Aylin zu treffen. Ich wählte ihre Nummer, doch vergebens. Zu meinem Leid musste ich feststellen, dass sie derzeit am Arbeiten war.
Ein schriller Ton jagte mich aus meinen bekümmerten Gedanken und automatisch blickte ich auf meinen soeben aufgeleuchteten Handydisplay. Ich stellte fest, dass Tuna mir eine Nachricht geschickt hatte, welche ich mir ansah.

Vergiss alles, was ich dir gestern gesagt habe. Wir können uns ein paar Wochen lang nicht mehr Privat treffen, sorry. Ich will das zwar nicht, aber wie gesagt: ich muss! Früher oder später wirst du es erfahren, aber sei mir nicht böse.

Wollte er mich auf den Arm nehmen? Er war mein ganzes Leben lang immer für mich da gewesen, was selbstverständlich auf Gegenseitigkeit beruhte, doch plötzlich wollte er sich aus dem Staub machen? Wir hatten uns zu jeder Zeit alles erzählt, doch anscheinend war ihm diese Freundschaft nicht mehr viel Wert. Enttäuscht war ich von Tunas Reaktion und vor allem von dieser Entscheidung, gerade jetzt, wo ich ihn brauchte. Außer ihm hatte ich niemanden, der mich beschützen konnte. Außerdem hatte Tuna meinem Bruder versprochen, immer auf mich aufzupassen und ununterbrochen für mich da zu sein, ein leeres Versprechen. Ich war enttäuscht von Tuna, sehr gekränkt von seinem Verhalten, irgendwas musste doch dahinter stecken, sonst hätte er das mit dem Abstand niemals in die Welt gesetzt, aber was?
Unzählige Gedanken plagten meinen Kopf. Mittlerweile war ich an den Straßenrand gefahren und sah starr vor mich hin. Ich nahm mir mein Handy zur Hand und unentschlossen tippte ich darauf rum, bis jemand an meine Autoscheibe klopfte. Das Klopfen ertönte ziemlich laut und versetzte mir kurz einen Schrecken. Ich sah nach links, kurbelte das Fenster runter und blickte augenblicklich in diese wunderschönen, grünen Augen. Sein breites Grinsen war nicht zu übersehen. "Du hast mir echt einen Schrecken eingejagt, Bugra." Nun steigerte sich das Lachen und laut hallte es um uns herum, sein Lachen war so ansteckend, doch ich blickte ihm im Moment nur fraglich entgegen.
"Jedes Mal, wenn wir uns sehen, erschreckst du dich wegen mir."
Nachdenklich blickte ich abwechselnd zu ihm, anschließend geradeaus. Schließlich wurde mir klar, dass das, was er sagte, stimmte. Ein Lachen konnte ich mir nicht verkneifen und eine Weile schallte harmonisches Gelächter aus unseren Mündern.
"Was machst du denn hier, am Straßenrand, alleine?", er hatte sich bereits beruhigt.
"Ich hatte gerade Uni Schluss und jetzt weiß ich nicht, was ich machen soll." Er stutze seinen Blick und sofort bildete sich ein Lächeln auf seinen Lippen.
"Steig aus!", befahl er mir.
"Wie bitte?"
"Los, steig aus!", forderte er mich erneut auf. "Wir machen jetzt was.", fügte er hinzu. In diesem Moment konnte ich keinen klaren Gedanken fassen, weshalb ich ohne nachzudenken aus dem Auto stieg, mitsamt meiner Handtasche, abschloss und ihm hinterher tippelte.
"Wohin?", wollte ich von ihm wissen.
Schlagartig blieb er auf der Stelle stehen, drehte sich zu mir, wodurch ich ihm erneut direkt in diese wunderschönen grünen Augen blickte und mich für einen minimalen Moment in ihnen verlor, lächelte mich schief an und näherte sich mir. Er stand nun direkt vor mir, wenige Millimeter befanden sich zwischen unseren Körpern und ich sah immernoch zu ihm herauf, er dagegen musste nach unten blicken, um mir in die Augen zu schauen. Erst jetzt fiel mir auf, wie groß er doch war. Nach einer andauernden Stille sprach er letztlich zu mir.
"Wirst du dann schon sehen."
Sanft griff er nach meiner Hand und zog mich einen Moment lang hinter sich her. Ich jedoch ließ seine Hand sofort los, wodurch ich auf stutzige Blicke traf und dieses verschmitzte Lächeln mir den Atem raubte, und lief weiter. Seine Schritte waren riesig, was mir erschwerte, im selben Tempo wie er zu sein. Er lief permanent vor mir und um neben ihm zu marschieren, musste ich regelrecht joggen. Irgendwann wurde es mir zu anstrengend und ich kam aus der Puste.
"Stop!", rief ich ihm zu, woraufhin er sich blitzartig zu mir wandte und mich mit einem fraglichen Blick musterte. Ich klappte meinen Mund auf, um etwas zu sagen, als ich von ihm unterbrochen wurde.
"Du schaust heute übrigens wunderschön aus!", dabei lächelte er mich an und blickte mir tief in die Augen. Ich trennte unsere Blicke voneinander und sah mich erst einmal selber an. Ich hatte ein schlichtes, sommerliches Kleid an, welches mit einem bunten Blumenmuster geziert war und welches knielang war. Darüber trug ich einen weißen Cardigan und ebenfalls weiße Chucks. Meine schulterlangen, glatten Haare waren leicht gewellt und geschminkt war ich nur dezent.
"Danke.", brachte ich zögerlich heraus. Meine Wangen begannen zu glühen und ich spürte förmlich, wie ich errötete. Direkt senkte ich meinen Kopf, damit er das nicht zu Gesicht bekam, es war mir peinlich.
"Schäm dich doch nicht.", sagte er erneut lachend. Dieses Lachen, was mich um den Verstand brachte. Mit zwei Fingern hob er meinen Kopf an, indem er mein Kinn sanft nach oben drückte und ich ihm erneut tief in diese unglaublichen Augen sah, worin ich mich verlor.
"Achja, wir sind schon da.", gab er lässig von sich. Diese Gelassenheit, welche ich bewunderte. Doch als ich mich umsah und begriff, wo wir uns gerade befanden, stiegen in mir unglaubliche Emotionen hoch und eine unangenehme Gänsehaut bildete sich auf meinem gesamten Körper. Tat er das absichtlich?

Ömür Boyu (Ein Leben lang)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt