Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir letztendlich im Haus meiner Familie an, wo wir von meinen Großeltern und restlichen Mitgliedern, wie meine Tanten, weitere zahlreiche Cousinen, Cousins und meine geliebten Zwillinge Yusuf und Yagiz, welche ich bisher nur von Bildern kannte, doch mich sofort in ihre wunderschönen grünblauen Augen verliebte, empfangen wurden. Sie waren noch kein Jahr alt und ihr bezauberndes Kinderlachen zog mich sofort in ihren Bann. In unserer Familie gab es ungewöhnlich viele Zwillinge, auch in der Generation meiner Eltern war das keine Seltenheit. Wir wurden so herzlich von jeder Seite empfangen, ich war unfassbar stark gerührt - das nannte ich Familie! Erneut stauten sich vor Freude unzählige Tränen und ich konnte sie einfach nicht aufhalten. Ich hatte diese liebliche Art zu sehr vermisst, meine Großeltern waren wundervoll, sie besaßen ein Herz aus Gold. Kaum zu Schweigen von dem Rest meiner Familie. Meine Cousinen waren alle toll, wir verstanden uns alle super gut. Der Empfang verlief herrlich, diese strahlenden Gesichter reichten aus, um uns eine prahlende Laune zu verpassen. Wir gingen ins Haus rein, wo wir Essen serviert bekamen. Es schmeckte köstlich und auch die Zeit verging recht schnell. Es war fast wie eine Familienversammlung, jeder war da. Ich spielte viel mit den kleinen Zwillingen und musste dabei die eifersüchtigen Reaktionen ihrer älteren Schwester Gökce ertragen, welche zugegeben lustig waren. Sie war selber erst frische sechs Jahre alt geworden, doch hatte in diesen jungen Jahren einen enormen Neid auf ihre jüngeren Brüder entwickelt, was sie oft verdeutlichte und uns zu Wissen gab, indem sie Yusuf und Yagiz schlecht behandelte. Manchmal war das recht witzig, doch oft war das unaushaltbar und die Kleinen konnten einem nur leidtun.
Wie dem auch sei, der Abend verlief voller Harmonie und in diesen Stunden konnte ich meine Probleme voll und ganz beiseiteschieben, bis ich nun wieder daran dachte. Die Runde näherte sich dem Ende und ich verabschiedete mich bis zu einem Wiedersehen von meinen Tanten, Cousins und Cousinen. In dem Haus, wo wir nun vorübergehend leben würden, wohnten meine Großeltern mitsamt der Familie meines Onkels, der uns vom Flughafen abgeholt hatte. Das gab zu Verstehen, dass meine Cousine Tuana und ihr großer Bruder Dogus gemeinsam mit ihren Eltern ebenfalls hier wohnten. Das war ziemlich gut für uns, da ich mich super mit Tuana und Umut sich gut mit Dogus verstand.
In einer Woche würde sogar die Hochzeit meines Cousins Gökhan anstehen, worauf alle ungedudig warteten. Allerdings musste ich an diesem Abend seine Verlobte kennenlernen und zugeben, dass ich sie überhaupt nicht leiden konnte. Sie hatte diese unerträgliche Art eines Kleinkindes an sich. Nicht nur, dass sie sich so benahm. Nein, sie sprach auch so. Mit diesem widerlichen Istanbuler Akzent und einer nervtönenden Piepsstimme.. Oh Cansu.
Als die Gäste alle gegangen waren, machte ich mich mit meinem Koffer automatisch auf den Weg in das Zimmer, dass immer Özlem und mir gehört hatte. Alles in diesem Zimmer war noch genau auf dem Stand, wie wir es vor einigen Jahren verlassen hatten. Zwei angebrachte Betten, doch auf einem fehlte Özlem. Es war schon etwas traurig zu sehen, wie die Dinge ihren Lauf nahmen.. Ich stellte meinen Koffer auf den Boden und schloss die Tür hinter mir. Kurz darauf fing ich an, den Koffer auszupacken und faltete sorgfältig meine Sachen zusammen, welche ich anschließend in den Kleiderschrank stapelte. Beim Auspacken stach mir plötzlich das Stofftier in die Augen, welches Bugra und ich auf dem Rummelplatz gewonnen hatten. Ich hatte seit diesem Abend diesen Delphin jede Nacht in meinem Bett schlafen lassen, auch wenn es kitschig klingen mag. Ich hatte darauf bestanden, es mitzunehmen. Vorsichtig nahm ich es in meine Hände und blickte in diese leeren Augen. Zuletzt hatte ich in Bugras wunderschönen Augen eine untertragbare leere gesehen und es hatte mich fertig gemacht. Diese Augen, welche sonst immer vor Harmonie glänzten und vor Freude glitzerten, sie waren an unserer letzten Begegnung so kalt, so leer. Wie ein Kleindkind klammerte ich meine Arme um das Stofftier und insgeheim wünschte ich mir Bugra her, wieso konnte ich in diesem Moment nicht in Bugras Armen sein? Ich spürte eine Träne meine Wange entlanglaufen und anschließend auf den knallpinken Delphin heruntertröpfeln. Ich vernahm das Klopfen einer Tür und bat die Person herein, nicht ohne den Delphin blitzschnell zu verstauen und mir die Tränen wegzuwischen. Als ich zur Tür blickte, konnte ich Tuana erkennen, welche still in meine Richtung schlich und sich zu mir kniete. "Was machst du?", wollte sie wissen. Noch bevor ich ausreden konnte, sprach sie allerdings dazwischen. "Hast du geweint?", sprach sie ungemein schockiert. Tuana war schon immer eine Vetrauensperson gewesen, ihr hatte ich schon immer all meine Sorgen erzählt und so konnte ich sie auch jetzt nicht anlügen. "Ja.", kam es still von mir. Sie strich mir behutsam über das Gesicht und nahm anschließend meine Hände in ihre. "Willst du es mir erzählen meine Schöne?" Ich nickte noch immer schweigend und erkannte das Verlangen nach einer Aufklärung in ihren faszinierend braunen Augen. Auch wenn es nur braune Augen waren, ich hatte schon immer etwas atemberaubendes in diesen Augen gesehen, was ich allerdings nicht deuten konnte. Ich beneidete meine Cousine für ihre Schönheit und für ihre Bescheidenheit, sie war traumhaft und die beste Zuhörerin aller Zeiten. Ohne Besorgnisse erzählte ich ihr alles, was mich zu diesen Zeiten plagte. Sei es alles rund um Bugra oder die Auseinandersetzungen mit meiner Familie. Da ich derzeit ziemlich viel Stress hatte, saßen wir stundenlang da und es tat mir einfach nur gut, mit ihr über alle meine Probleme zu reden. Sie hatte für alles einen guten Rat und 'Ablenkung' war das Stichwort. Selbstverständlich suchte sie für alles eine Lösung, doch das war nicht einfach. Also beschlossen wir, uns schön zu machen und einen Mädelsabend zu verbringen, sofern es uns unsere Brüder erlaubten. "Dogus!", rief Tuana nach ihrem großen Bruder. Als sie keine Antwort erhielt, schrie sie noch einmal aus ganzer Kehle "Dogus!" und zog dabei seinen Namen in die Länge. Schon lauschten wir anschließend seinem Herbeisprinten, was uns ein Lächeln ins Gesicht zauberte, da er sich ziemlich hastete. "Was ist?", sagte er laut, während er die Tür aufriss und vollkommen aus der Puste das Zimmer betrat. Der Anblick war ziemlich witzig und so konnten wir uns weiterhin kein Lachen verkneifen. Als Reaktion auf unser scheinbar unendliches Gelächter griff mein Cousin zu einem Kissen und bewarf uns damit. Meine Cousine wich noch rechtzeitig aus, doch ich bekam das zugegeben harte Kissen mitten ins Gesicht geschleudert, weshalb ich mich kurz darauf hinter ihm befand und mit einer zugegeben hohen Geschwindigkeit hinter ihm her war. Er rannte bereits weg und in diesem riesen Haus war genug Platz um herumzurennen, wie es schien. Vor lauter Gelächter kam ich schnell aus der Puste, ohne ihn eingefangen zu haben und ich ließ mich auf irgendein beliebiges Sofa fallen. Als Dogus das große Wohnzimmer betrat, schleuderte ich ebenfalls ein Kissen nach ihm, doch erfolgslos, weshalb wir erneut begannen zu lachen. Diese Atmosphäre war unbezahlbar, die ganze Kälte, welche ich von meiner eigentliches Familie all die Jahre zu spüren bekommen hatte, wurde in einigen Stunden von meiner wahren Familie aufgetaut und wir harmonierten perfekt miteinander. Ich war in meinen Gedanken versunken und musste daran denken, wie viel Glück ich mit der Familie meiner Vaterseite hatte und wie lieb sie alle zu uns waren. Mit dem vollsten Stolz konnte ich sie meine Familie nennen und nicht meine eigene Mutter. "Was wolltet ihr eigentlich?", fragte Dogus Tuana und mich, nachdem er sie ebenfalls ins Wohnzimmer berufen hatte. "Wo ist Umut?" "Der war kaputt und wollte schlafen. Jetzt sagt was ihr von mir wolltet, ihr Hexen.", sprach Dogus belustigt. Wir beide wussten, wie streng unsere Brüder bei diesen Themen reagierten, weshalb wir uns erst einmal gegenseitig ansahen und in unseren Blicken Hilfe suchten. Ich deutete mit meinen Augen an, dass sie reden sollte und sie gab mir zu verstehen, dass er bei mir nicht so streng reagieren würde, als wenn sie gefragt hätte. Für einen Moment fand ich es lustig, wie wir durch einige Blicke unsere Gedanken ausgetauscht hatten und im selben Augenblick dachte Tuana das Gleiche, da wir plötzlich losprusteten und uns vor Lachen nicht mehr einkriegten. Dogus regte sich langsam immer mehr über unser plötzliches Verhalten auf und forderte uns dazu auf, Klartext zu reden. Nachdem wir uns beruhigt hatten, schoss ich schließlich doch los. "Also Dogus Abi.. Tuana und ich wollten heute ein bisschen rausgehen und-" "Nein.", kam es fest entschlossen von ihm. "Man Abi, bitteeeee.", bettelte Tuana ihn an, doch an seiner Meinung ließ sich nichts ändern. "Ich sagte nein.", kam es in einem neutralen Ton von ihm. "Wir wollen nur ein bisschen raus, bisschen in die Stadt und vielleicht in ein Café, nicht das was du jetzt denkst." "Tuana, ich habe nein gesagt. Jetzt seid leise, um diese Zeit habt ihr draußen nicht zu suchen." Wir ließen beide jeweils einen enormen Seufzer los und schon war mein Cousin verschwunden. "Ich hasse ihn.", jaulte Tuana. "Was denkt der? Dass wir uns besoffen in eine Disco stürzen?" Ich hörte Tuana noch eine ganze Weile beim meckern zu und dabei, wie sie sich aufregte, bis ich Einspruch erhob. "Ist egal, dann gehen wir eben Morgen Mittag.", schlug ich vor, doch mir fiel direkt danach auf, dass das eine ziemlich dumme Idee war. Wir hatten uns für ein Shisha-Café entschieden und mittags hatten die nicht einmal geöffnet. Ich schnaubte laut genervt auf und erhob mein Haupt. Wir befanden uns im unteren Stockwerk von den insgesamt drei Stockwerken. Die Familie meines Onkels wohnte im ersten Stock und meine Großeltern im zweiten. Das hier war sozusagen eine Gästewohnung, welche nun Umut und ich in Besitz nahmen. "Tuana?" "Hm?" "Glaubst du es ist zu spät für den Friedhof?" "Özge, spinnst du? Hast du keine Angst im Dunkeln?" "Ich habe meinen Vater vermisst.", sprach ich kühl zu ihr rüber und traf anschließend auf verständnisvolle Blicke. "Es kann um die Zeit aber gefährlich sein. So wie ich dich kenne, willst du alleine gehen." Sie kannte mich einfach zu gut und sie hatte Recht.
Am nächsten Morgen stand ich ziemlich früh auf und ich schien die Erste zu sein. Kein Wunder, ich hatte mir einen Wecker um sieben Uhr gestellt, damit ich meinen Vater in Ruhe besuchen konnte. Ich schmierte mir eilig ein Brot, nachdem ich mir dunkle Klamotten angezogen hatte und hinterließ einen Zettel mit der Notiz "Bin Baba besuchen, komme bald wieder." Ich wollte nicht, dass irgendjemand mitbekam, dass ich nun zum Friedhof gehen würde. Ich wollte für mich alleine sein und mir nicht Sachen anhören müssen wie "Frühstücken wir doch erst zusammen." Ich wollte Zeit mit meinem Vater verbringen, so schmerzhaft das auch in meinen Ohren klang, denn ich könnte nie wieder in sein makelloses Gesicht sehen und einen Kuss auf seine zarten Wangen drücken. Nie wieder würde diese Wärme meinen Körper durchziehen, wenn er mir einen Kuss auf die Stirn drückte, mich fest in seine Arme nahm und mir ein Lied vorsang. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und besuchte nach seiner Beerdigung das erste Mal sein Grab. Ich entschied mich den Bus zu nehmen und hielt an der vorgesehenen Haltestelle. Vorher besuchte ich ein Blumengeschäft und kaufte meinem geliebten Vater einen Strauß weißer Rosen, diese Blumen hatte er geliebt. Er hatte mir die Liebe zu den Blumen gelehrt und außerdem hatte ich zu jedem Anlass weiße Rosen von ihm bekommen, diese fand er immer besonders schön. Ich zog ihren Duft tief in mich hinein und stellte mir dabei meinen Vater vor, ich sehnte mich unbeschreiblich sehr nach ihm. Mit langsamen Schritten näherte ich mich dem Friedhof und meine Gänsehaut wurde immer schlimmer. Mir liefen zahlreiche Schauer den Rücken hinunter, sodass es mir unangenehm wurde. Die düstere Atmosphäre ließ mich nicht davor abschrecken, die Sehnsucht nach meinem Vater zu stillen. Ich kannte den Weg zu seinem Grab auswendig, doch jeder Schritt schmerzte in meinen Füßen mehr. Ich brachte die letzten Schritte nur schwer über das Herz und als ich den Schriftzug "Hakan Kaya" las, war es nun endgültig über mich geschehen. Ich ließ den Tränen freien Lauf, obwohl mein Vater es nicht mochte, wenn ich weinte. Ihm zu Liebe versuchte ich, diese Tränen zu stoppen, doch ich hielt dem allen nicht lange Stand. Sein Grab war schön. Erneut bekam ich zu Gesicht, was für eine tolle Familie ich hatte. Sein Grab war gepflegt und mit frischen Blumen förmlich überhäuft. "Baba, ich habe dir weiße Rosen mitgebracht.", sprach ich mit zittriger Stimme. "Die liebst du doch so sehr."; Behutsam legte ich die Rosen auf sein Grab und strich mit meinem Finger über die Eingravierung. Ich ließ mich auf die Knie fallen und die Tränen strömten wie ein Wasserfall über mein Gesicht, das war definitiv nicht der Moment um Stärke zu zeigen. "Du fehlst mir so sehr, Babacigim." Ich drückte einen Kuss auf seinen Namen und griff zu einem nahegelegenen Wasserschlauch, mit welchem ich sein Grab goss. Ich kniete mich anschließend erneut hin und betete. Ich ging das Gebet durch und fühlte mich besser. "Du hättest uns nicht verlassen dürfen, Güzel Babam (mein schöner Vater). Ohne deine Lebensfreude ist mein Leben so grau, so düster. Ich werde verletzt, mein Herz wird gebrochen und ich habe deine starken Arme nicht mehr, die meinen Körper umschlingen und mir das Gefühl geben, dass alles gut ist. Du fehlst mir so sehr, Baba, du fehlst mir." Meine Stimme ließ immer mehr nach, ich zitterte am ganzen Leib. Es war ein schrecklicher Moment. "Wenn du das möchtest, vertragen wir uns mit Anne und Özlem. Aber nur, wenn du das wirklich möchtest. Die Welt ist nichts ohne dich, ohne den schönsten Menschen hat dieses Leben keine Bedeutung mehr. Du hast mir immer die nötige Kraft gegeben, du hast mich zu diesem starken Mädchen gemacht. Jetzt bist du nicht mehr da und dieses starke Mädchen zerbricht innerlich. Wieso musstest du so früh gehen?" Ich hatte das berauschende Gefühl, dass mein Vater alles hörte, was ich ihm sagte. Ich hatte das Bedürfniss, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen und ich hoffte, dass die Besuche bei ihm mir helfen würden. Mein Vater war schon immer meine größte Hilfe gewesen. Vor lauter Verzweiflung umarmte ich seinen Grabstein, es fühlte sich so richtig an. Ich verpasste zahlreiche Küsse auf diesen kalten Stein, der mir plötzlich warm vorkam, als ich mir darunter meinen Vater vorstellte. War ich etwa verrückt? Wieso mussten die besten Menschen so früh gehen, wieso nur?
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Ömür Boyu (Ein Leben lang)
Romance"Rede doch mit mir.", sein Atem prallte auf mein Gesicht, wodurch sein ekelhafter Mundgeruch in meine Nase einzog. Mein Herz raste wie wild, was wollte er von mir? Die Angst stieg immer weiter in mir auf. Er kam immer näher und immernoch versuchte i...