Kapitel 14

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Was hatte ich denn falsch gemacht, dass sie mich so sehr verachtete? Das einzige was ich tat, war, meinem Bruder beizustehen. Ich schämte mich nicht für ihn. War das etwa Grund genug dazu, die eigene Schwester zu verstoßen? Ich vermisste sie ehrlich gesagt, doch diesen eiskalten Blicken nachzufolge, beruhte dies nicht auf Gegenseitigkeit. Ich versank für einen Moment in meinen Gedanken, im nächsten Moment stupsten mich zwei Finger kräftig an und rissen mich heraus, aus meinen Gedanken. Mein Blick hob sich und ihre feurigen Augen funkelten, sie sah wütend aus.

Özlem und ich waren zwar Zwillinge, doch unser Aussehen unterscheidete sich stark voneinander. Während ich dunkle Augen und dunkle Haare hatte, waren ihre Haare in einem ziemlich hellen braun getönt und dazu hatte sie wunderschöne dunkelgrüne Augen, die sie - wie mein großer Bruder auch - von unserer Mutter geerbt hatte. Unsere Charaktere unterschieden sich ebenfalls enorm voneinander. Wir hatten uns zwar immer schon sehr gut verstanden, doch verschiedener konnte meiner Meinung nach ein Geschwisterpaar nicht sein. Während sie der aufgeschlossenere Typ von uns beiden war, war ich eher in mich verschlossen. Ich war ein kühlerer Mensch, sie hingegen warmherzig, kontaktfreudig. Was wir jedoch eindeutig gemeinsam hatten, war unser Temperament. Wir waren unfassbar temperamentvoll, kaum aushaltbar. Diese Charaktereigenschaft bewies sie mir in diesem Moment aufs Neue.

Ich war verwirrt, wieso sah sie mich so wütend an? Ich blickte ihr in die Augen, ihren Freund ignorierte ich. Ich hatte das Bedürfnis, ihr nah zu sein. Meiner eigenen Schwester. Diese Distanz hielt viel zu lange an, ich vermisste sie so sehr. Im nächsten Moment erhob ich mein Haupt und fiel ihr in die Arme. Merkwürdigerweise erwiderte sie meine Umarmung.
"Ich hab dich so vermisst!", flüsterte ich ihr ins Ohr.
Nun löste sie sich von mir.
"Wieso meldest du dich dann nicht?"
"Ihr verachtet mich doch.", erneut senkte ich meinen Blick. Nun ertönte ein provokantes Lachen aus ihrem Mund.
"Ja, das stimmt." Es ist immer wieder unglaublich, wie einige Wörter von einer geliebten Person mich innerlich in tausende Stücke reißen und dabei gezielt mitten in mein Herz treffen konnten. "Du hast dich für deinen ehrenlosen Bruder entschieden. Wegen euch zwei Gestalten redet die gesamte Nachbarschaft nun über uns. Schämt ihr euch etwa nicht? Schämst du dich nicht dafür, einen Kriminellen zu verteidigen?" Sie lachte erneut provokant auf, während sie nach der Hand ihres Freundes griff.
"Er ist unschuldig, Özlem."
"Unschuldig? Dass ich nicht lache. Wo lebst du denn? Naives, kleines Mädchen."
Ich wusste ehrlich gesagt nicht, womit ich es verdient hatte, so sehr gedemütigt zu werden.
"Özlem, Familie heißt, einem in guten wie in schweren Tagen beizustehen. Familie heißt, immer für sie da zu sein. Begreifst du das nicht? Er ist unser Bruder, unser Fleisch und unser Blut."
"Falsch! Er ist dein krimineller, verachtungswürdiger und dein ehrenloser Bruder. Er hat den Namen unserer Familie in den Dreck gezogen, tut man so etwas seiner Familie an?"
Ich schüttelte verständnislos den Kopf.
"Ich vermisse dich als Schwester wirklich. Aber nicht das, was gerade gegenüber von mir steht, sondern meine Özlem. Meine beste Freundin und gleichzeitig meine tolle Schwester Özlem. Nicht diese arrogante Frau vor mir. Wo ist sie hin? Kriege ich sie zurück?"
Nach diesen Worten erkannte ich eine gewisse Traurigkeit in Özlems Augen. Es kam mir sogar für einen minimalen Augenblick so vor, als würden sich Tränen in ihren bezaubernden Augen sammeln, es brach mir das Herz. War ich ihr wirklich so egal, wie sie es mir zu vermitteln vermochte? Das war die einzige Frage, die sich in meinem Kopf befand und ich wusste, dass ich darauf keine Antwort bekommen würde. Ich musste leider realisieren, dass es nicht mehr dieses tolle Leben von vor einigen Jahren war, als es uns an nichts fehlte.

Ich wusste nicht, was sie damit bezwecken wollte, ihre Geschwister zu hassen.
"Vermisst du nicht auch diese Zeiten?"
Die Tränen hatten sich in ihren Augen gestaut, welche glasig in meine blickten.
"Ich vermisse nichts, nichts! Ich habe ein perfektes Leben ohne euch, macht es mir nicht wieder kaputt! Ihr seid so ehrenlos."
Sie schrie mir entgegen, sodass uns einige Passanten anstarrten. Ich blickte sie immernoch an, während ich in meinen Gedanken versank. Sie brüllte weiter, doch ich verstand nichts mehr. Ich verschwand für einen Augenblick in meiner eigenen Welt.
Als ich für einen Moment nach links blickte, erkannte ich Aylin, welche angesprintet kam und mich von Özlem trennte.
"Özlem, spinnst du? Was ist denn los mit dir?", sprach Aylin ruhig zu Özlem, welche sich inzwischen allmählich beruhigte. Während Aylin besinnliche Worte zu meiner Schwester sprach, stand ich still da und bemerkte anschließend Özlems Freund neben mir.
"Was willst du?", gab ich genervt von mir.
"Ich werde gucken, was ich machen kann.", sprach er zwinkernd zu mir. Fraglich blickte ich ihm nun entgegen. "Wie?", fragte ich in meiner Verwirrung. "Ich finde, dass du Recht hast. Sie benimmt sich daneben, das schaffen wir schon. Ich bin übrigens Cenk, Özlems Freund. Ich hab schon ein bisschen von dir gehört, freut mich dich kennenzulernen."
Diese Aussagen machten mich ziemlich glücklich und behalfen mir dazu, mich allmählich zu entspannen.
"Danke.", brachte ich gerade noch so vor lauter Verwunderung heraus. Ich grinste vor mich hin, bis mir einige Fragen in den Sinn kamen. Aylin war immernoch Özlem am beruhigen, inzwischen waren sie nicht mehr in meinem Blickfeld. "Wie lange seid ihr denn schon zusammen?"
"Fast zwei Jahre."
Ich musste schlucken, so lange hatte ich nichts mehr von ihr gehört.
"Ich bin am überlegen, Heiratsantrag und so." Dabei zwinkerte er erneut.
"Wow.", ich war beeindruckt, was ich auch mit meinem Ton verdeutlichte. "Aber ich weiß nicht so recht, ich glaube ich warte. Es ist vielleicht noch zu früh." Gerade wollte er weiterreden, da unterbrach ich ihn schlagartig. "Sag niemals zu früh! Ich, zum Beispiel, habe zu lange gewartet. Es gibt kein zu früh, Cenk. Es gibt nur ein.. zu spät."
Gegen Ende wurde meine Aussprache deutlich langsamer und auch leiser, was er bemerkte. Ich schluckte einmal.
"Danke, das nehme ich mir zu Herzen. Ich schnapp mir die Hexe dann wieder und lasse dich mit deiner Freundin alleine.", dabei lächelte er. Ich musste automatisch auch lächeln und wünschte den beiden viel Glück. Erst suchte Cenk sie mit seinen Augen, anschließend schritt er davon. Ich beobachtete ihn, wie er Aylin zu mir schickte.
"Wow, was war denn das?", sie klang regelrecht erstaunt.
"Sorma (Frag nicht)", seufzte ich.
Wir beschlossen, uns in einer Eisdiele jeweils etwas zu bestellen und währenddessen über die Situation von gerade eben zu reden. Ich hatte ihr alles erklärt, was sie jedoch nicht sonderlich wunderte.
"War doch klar, dass sie so reagieren wird. Das Mädchen hat keine Ahnung was Familie ist. Hoffentlich kommt sie bald zur Vernunft. Ich bin für dich da Canim (mein Schatz)", ich lächelte aufgrund des Gefühls zu wissen, dass ich die tollste Freundin überhaupt hatte. Schließlich fiel mir der Vorfall heute mit Bugra im Park ein. Gespannt erzählte ich Aylin davon, welche sehr verärgert über ihn war.
"Der soll dich endlich in Ruhe lassen, sag es Tuna!"
"Der will Abstand.", das 'Abstand' betonte ich dabei besonders.
"Abstand?", ihre Stimme hallte entsetzt in mein Ohr, woraufhin ich nickte.
"Paar Wochen."
Aylin riss ihre Augen auf, anschließend senkte sie ihren Blick.
"Glaubst du überhaupt, dass er sich für mich interessiert? Der sieht mich doch nur als Schwester."
Ich war überaus unerfahren bei diesem Thema. Ich hatte überhaupt kein Gefühl dafür, so etwas einzuschätzen, weshalb ich lustlos mit den Schultern zuckte. Einerseits wollte ich sie nicht verletzen, indem ich etwas falsches sagte. Andererseits wollte ich ihr auch keine Hoffnung machen, deshalb wechselte ich das Thema.

Wir unterhielten uns gefühlte Stunden, lachten miteinander, tratschen und planten unser Wochenende, an welchem ich glücklicherweise frei haben würde und nicht arbeiten müsste. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass meine Schicht im
Café in einer halben Stunde beginnen würde. Da das Café etwas weiter von der Stadtmitte entfernt war, sprang ich hastig auf, verabschiedete mich von Aylin und eilte los.

Am Café angekommen musste ich diese lustlosen, falschen, hinterhältigen Gesichter meiner Kollegen erblicken, welche meine Laune augenblicklich herunterzogen. Als ich jedoch Ali sah, musste ich lächeln. Wir begrüßten uns liebevoll und glücklicherweise verbrachten wir heute gemeinsam unsere Schicht. Die Arbeit verging ziemlich schnell. Ich redete viel mit Ali und schließlich hatte ich eine kurze Pause. Ich ging erneut durch den Hintereinang raus und setzte mich auf einen der vielen leeren Bierkästen. Reglos starrte ich in den Himmel, welcher langsam verdunkelte. Der Mond war bereits zu sehen. Ich betrachtete ihn interessiert, bis ich Schritte neben mir hörte. Blitzartig sah ich mich um und musste leider Gottes wieder einmal in diese unglaublich faszinierenden grünen Augen blicken, welche gänzlich leuchteten und eine enorme positive Energie ausstrahlten. Was wollte er schon wieder?

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Bitte ganz viele Kommentare. Gibt es auch welche unter euch, die Bugra gut finden und nicht genervt von ihm sind?? Feedback so wie Kritik, ehrliche Meinungen, Lob und desgleichen ist jederzeit erwünscht. DANKE für über 900 Leser und einen lieben Gruß an meine Özi hahahah i love you balim ♥️♥️

Ömür Boyu (Ein Leben lang)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt