Kapitel 10

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Sein Atem beschleunigte sich und seine Augen funkelten mich böse an. Ich hielt den Blickkontakt, doch traute mich nicht etwas zu sagen. Er zitterte immernoch vor Wut. Schließlich brach er die Stille, indem er mir erneut unsanft entgegenbrüllte,
"Du hast es hier mit Mördern zu tun, ich weiß, wovon ich rede!"
Mörder? In mir bildete sich ein riesengroßes Fragezeichen. Bugra und Mörder? Übertrieb er es nicht ein wenig?
Aylin stand hastig auf und rannte in die Küche. Während sie weg war, wollte ich Klarheit schaffen.
"Mörder? Tuna, kannst du mir das mal erklären?"
Tuna stand blitzartig auf und wollte aus der Wohnzimmertüre heraus, als er Aylin heftig anrempelte und sie zu Boden fiel. In ihrer Hand hatte sie Tücher, um seine Wunden abzutupfen, doch er ignorierte es. Ohne uns einen letzten Blick zu widmen sprintete er wutentbrannt aus der Wohnung. Erst lief ich ihm hinterher, doch da ich nur angeschrien wurde, ließ ich ihn gehen. Er knallte die Tür zu und ich drehte mich zu Aylin. Ich kniete mich nieder zu ihr und bemerkte ihre Tränen. "Was habe ich falsch gemacht, Öz?"
Sie war ein sehr empfindlicher und sensibler Mensch, zudem empfand sie etwas mehr für Tuna als Freundschaft. Ich tröstete sie ein wenig, bis wir schließlich auf dem Sofa über die Situation von gerade eben diskutierten und uns den Kopf darüber zerbrachen. Leider konnten wir nicht mehr tun, als darüber zu spekulieren, was er mit 'Mörder' meinte. Bugra und Mörder? Wieso sollte er etwas Böses für mich wollen? So hatte ich ihn nicht kennengelernt, er verhielt sich doch unglaublich freundlich mir gegenüber, obwohl ich nicht sonderlich nett zu ihm gewesen war. War es vielleicht ein Teil seines "Plans"? Mir kamen unzählige Gedanken in den Sinn, denn anscheinend gehörte er zu 'Tolgas Leuten', vor welchen mich sowohl mein Bruder, als auch Tuna gewarnt hatten. Diese Art von Tuna war Aylin und mir völlig neu, hoffentlich würde er sich möglichst schnell beruhigen.
Da es schon ziemlich spät war, verabschiedete ich mich von Aylin, welche immernoch ein wenig traurig wegen Tunas unachtsamen Reaktion war und sie ging schließlich nach Hause. Aylin wohnte bei ihren Eltern und machte derzeit eine Ausbildung zur Bürokauffrau.
Nachdem sie weg war, betrat ich nachdenklich meinen Balkon und überlegte, ob ich mir eine Zigarette anzünden sollte. Ich kramte aus meiner Handtasche eine letzte Zigarette heraus und zögerte. Mir kamen die strengen Worte von Tuna in den Sinn, weshalb ich sie letztendlich zerbrach und aus dem Balkon warf. Da es ziemlich kalt war, bekam ich schnell eine unangenehme Gänsehaut, doch ich wollte die frische Luft genießen und einen klaren Kopf fassen. Nach gefühlten Stunden betrat ich wieder meine Wohnung, zog mir bequemere Klamotten an und legte mich schließlich in mein warmes Bett. Ich griff zu meinem Handy und bemerkte erneut eine Nachricht von Bugra.

Du kannst wirklich mit mir reden, wenn du jemanden brauchst :-)
- Bugra Ates

Nein danke, dazu habe ich Freunde ;-)
- Özge Kaya

Nicht einmal ein paar Minuten vergingen, bis ich eine Antwort erhielt.

Du wirst schon sehen, irgendwann wirst du mir alles freiwillig erzählen :-)
- Bugra Ates

Da ich für mich selber beschlossen hatte, Abstand von ihm zu halten, wimmelte ich ihn mit einem einfachen 'Gute Nacht' ab, worauf er mir - wie immer - sofort eine Antwort gab.

Schlaf schön, Güzelim (Schönheit, meine Schöne). Ein anderes Mal unternehmen wir dann etwas miteinander :-)
- Bugra Ates

Genervt von seiner etwas zu direkten Art loggte ich mich bei Facebook aus und fiel anschließend in einen traumlosen Schlaf, aus welchem ich morgens von meinem nervigen Wecker gerissen wurde.
Es war Freitag, was mir das Leben wesentlich einfacher machte und ausnahmsweise war ich unerklärlicherweise gut gelaunt. Da ich keinen Hunger hatte, machte ich mir lediglich einen Kakao, welchen ich genüsslich austrank und mich anschließend auf den Weg zur Uni machte. Ich begrüßte unsere kleine Truppe mit jeweils einer flüchtigen Umarmung.
"Özge, wieso bist du heute so gut gelaunt?", lachte Kevin auf. Ich zuckte mit den Schultern, normalerweise war es meine abweisende Art, welche dominierte.
Wir scherzten ein bisschen umher, bis ich von weitem Tuna kommen sah. Ich erkannte einen Verband an seiner Hand und gut gelaunt wirkte er keineswegs auf mich. Er näherte sich unserer Truppe, während ich darüber nachdachte, wie oder ob ich ihn überhaupt begrüßen sollte, und begrüßte Kevin und Melisa, mich ließ er aus, was mich zugegeben traurig machte. Nicht einmal, als ich mit ihm redete, gab er mir eine Antwort und prompt verschwand meine gute Laune.
"Was ist denn bei euch los?", wollte Melisa wissen. Uninteressiert zuckte ich mit den Schultern und betrat ohne ein weiteres Wort den Vorlesesaal, die anderen tippelten mir wortlos hinterher. Ich ließ mich gelassen auf einem Stuhl nieder und tippte ein wenig auf meinem Handy herum, bis ich eine Person neben mir bemerkte. Ich erblickte Tuna aus dem Augenwinkel, doch ignorierte ihn. Die Vorlesung begann und ohne ein einziges Wort mit Tuna zu wechseln, lauschte ich dem Professor und schrieb einige Sachen mit. Eine Weile versank ich durch die Langweile in meinen Gedanken, aus welchen mich mein Nebensitzer riss.
"Ich kann es dir nicht sagen.", hauchte er leise, ich reagierte nicht. Doch als ich für einen Moment in seine Augen sah, entging mir dieser gespielt hasserfüllte Blick nicht. Ich zuckte mit den Schultern.
"Wir müssen Abstand zueinander halten, Özge."
Dieser Satz war dafür bestimmt, mich zu zerstören. Mein bester Freund wollte Abstand zu mir halten? Erst verriet er mir die Wahrheit nicht und anschließend wollte er Abstand zu mir halten? Dies leuchtete mir nicht ein, was meinte er überhaupt mit Abstand? Tage? Wochen? Monate? War das überhaupt im zeitlichen Sinne gemeint? Allein bei dem Gedanken wurde mir übel.
"Gut Tuna, dann halten wir Abstand."
Diese Antwort kam nur gezwungenermaßen von mir. Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und blickte geradeaus. Aus dem Augenwinkel konnte ich betrachten, wie er seinen Kopf senkte und sich nicht entscheiden konnte, ob er nun etwas sagen sollte, oder nicht. Sein Mund klappte auf und wieder zu. Dies wiederholte sich.
"Ich will es nicht, ich muss."
Wollte er mich - auf gut Deutsch gesagt - verarschen?

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Wie findet ihr eigentlich die Geschichte bisher? Ich würde mich sehr über eure Meinungen freuen ❤️
Mfg, cankurban58

Ömür Boyu (Ein Leben lang)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt