Kapitel 39

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Nicht lange sah er mich an und wandte seine Blicke nach einigen Sekunden von mir ab. Sie strahlten keinerlei Gefühle aus, sie waren eiskalt. Doch die Tatsache, dass er an allem hier beteiligt war, zerfraß mich am meisten. Musste ich immer von jedem belogen und betrogen werden? Konnten die Leute nicht ehrlich zu mir sein, war das so schwer? Ich beschloss, ihm keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken und mich auf den fortlaufenden Prozess zu konzentrieren. "Hiermit starten wir den ersten Prozesstag. Wir hoffen, dass der Prozess bereits heute zu Ende sein wird und wir keinen weiteren eröffnen müssen. Umut Kaya, angeklagt wegen Mord. In diesem Fall gibt es zwei Zeugen, Tolga Aslan und Murat Kaplan, welche die Tat wiefolgt schilderten: Nach einem Clubbesuch kam es zu einer Auseinandersetzung und das Opfer wurde niedergeschossen. Die Waffe wurde bei Umut Kaya aufgefunden und die Zeugen gaben an, alles gesehen zu haben. Der Angeklagte wurde vorläufig festgenommen, doch nach wie vor gibt er an, die Tat nicht begangen zu haben. Einen weiteren geladenen Zugen, welcher die Tat eventuell bezeugen kann ist auch anwesend. Bugra Ates." Ich konnte meinen eigenen Ohren nicht trauen. Das konnte doch nicht wahr sein. Mein Bruder, ein Mörder? Niemals! Nie im Leben, das war unvorstellbar für mich. "Bugra Ates ist ein Zeuge, welcher sich im Nachhinein zu einer Aussage entschieden hat. Ich muss alle aussagenden Zeugen in diesem Saal darauf hinweisen, dass jede Aussage vor Gericht gegen sie verwendet werden kann und sie sich bei einer Falschaussage strafbar machen." Bugra wollte also gegen meinen unschuldigen Bruder aussagen? Das wollte ich nicht wahrhaben. "Bei Unannehmlichkeiten wird der Prozess verschoben oder die betroffene Person ausgeschlossen." Alle lauschten dem Staatsanwalt. Ich wusste bereits, dass es schwer werden würde für Umut. Drei Zeugen, die gegen ihn aussagten. Ich bat meinen lieben Gott um Kraft und um Erfolg, wir brauchten das jetzt. Der Staatsanwalt ging von allen Personen die Daten durch, bis es schließlich startete. Meine Gedanken waren ausschließlich bei Bugra. So langsam konnte ich mir alles erklären. Er hatte mich geküsst und mir danach das Herz gebrochen? Wieso? Weil er mich somit fertig machen wollte und erst Recht während des Prozesses spürte ich seine kalten Blicke immer wieder auf mir. Enttäuschung. Trauer. Wut. Alles in einem. Ich war zu naiv gewesen, viel zu naiv. Mir wurde auch klar, wieso er mich daran hindern wollte, den Prozess zu besuchen. Er wollte wohl nicht auffliegen, in keinerlei Hinsicht. "Umut Kaya, ihre Schilderung bitte." Umut räusperte sich kurz und blickte anschließend zu seinem Anwalt. "Mein Mandant war zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Waffe wurde ihm untergejubelt." Sie schenkten sich einige Blicke, in etwa so als würden sie telepathieren, bis Umut ihm etwas ins Ohr flüsterte und anschließend aussagte. "Ich werde die ganze Wahrheit sprechen." Als ich zu den Zeugen sah, also Tolga, Bugra und Murat, konnte ich entsetzte Ausdrücke feststellen, ich fragte mich nur, welche Wahrheit? "Meine Schwester ist alles für mich und wenn man das weiß, dann hat man mich am Haken." "Was meinen sie damit?", erwiderte der Staatsanwalt und auch ich war verwirrt. Ich spürte alle Blicke des Saales auf mir, sehr unangenehm. "Was ich damit meine? Es gibt mehrere kleine Gruppen in der Stadt. Tolgas Leute und meine Leute sind verhasst. Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich war mit meinen Freunden in einem Club feiern und Tolga war mit seinen Leuten ebenfalls da. Sie fingen Stress an und so kam es zu einer Schießerei, wobei das Opfer namens Oguzhan Daglar, im übrigen mein bester Freund, bekanntlich getötet wurde. Ich würde meinen besten Freund niemals umbringen, er war ein Bruder für mich. Die Schüsse kamen von Tolga. Ich habe alles mitbeobachtet, doch Tolga ist intrigant. Er drückte mir die Knarre in die Hand mit den Worten "Wenn deiner Schwester nichts passieren soll, dann gestehst du deine Tat." Für meine Schwester würde ich alles tun und so ging ich in Untersuchungshaft, jedoch ohne ein Geständnis oder anderes in der Art abzugeben, weshalb sie mir immer wieder drohten. Ich weiß ganz genau, dass sie meiner Schwester etwas angetan hätten, hätte ich die Wahrheit ausgesprochen oder jemandem davon erzählt. Glauben sie m-" "Lüge!", schrie Tolga plötzlich aus tiefster Kehle, ich schreckte auf. Das Geschehen beobachtete ich gespannt und war zugleich geschockt. Deshalb durfte ich also von alldem nichts wissen? Doch was mir zu schaffen machte war, dass Oguzhan Abi das Opfer der grausamen Tat war. Nun war ich erst Recht von seiner Unschuld überzeugt, nie im Lebem würde er Oguzhan Abi etwas antun und nie im Leben würde Oguzhan Abi ihm einen Grund dafür geben. Mein Herz schmerzte. Er hatte ebenfalls die Bruderrolle für mich übernommen, ich liebte ihn sehr, das stach heftig in mein Herz. "Herr Aslan, sie wurden nicht aufgerufen. Hiermit laden wir einen weiteren Zeugen, welcher für Herrn Kaya aussagen wird. Tuna Gönül bitte." Schlagartig drehte ich mich zur Eingangstüre, aber natürlich! Tuna wusste auch von Anfang an Bescheid, war er etwa dabei? Er wurde in den Zeugenstand berufen und schilderte die Tat genauso, wie Umut es tat. Hoffentlich belastete dies Tolga und seine Leute. "Das belastet sie natürlich, Herr Aslan." Der Staatsanwalt betätigte einige Aufschriebe und seine soeben getätigte Aussage machte mir Mut. Er schien auf Umuts Seite zu sein. "Ihre Akte prahlt bereits vor lauter Straftaten, Herr Aslan. Also, wieso sollten sie nicht auch einen Mann kaltblütig erschießen und es jemand anderem unterjubeln, indem sie mit dem Wohlergehen der Schwester drohen?" Und das war der Triumph, er war auf unserer Seite. Ich grinste Umut zu, welcher ebenfalls fröhlich blickte und anschließend wanderten meine Blicke automatisch zu Bugra, welcher enttäuscht aussah. Er arbeitete also wirklich für Tolga. Hatte ihm die gemeinsame Zeit mit mir nie etwas bedeutet? "Bugra Ates in den Zeugenstand, bitte." Bugra setzte sich auf den vorgegebenen Stuhl, somit saß er mit dem Rücken zu mir. Er stellte den Lautsprecher zurecht und räusperte sich. "Was haben sie mit der Tat zu tun, Herr Ates?", fragte der Staatsanwalt. "Mit der Tat nichts, ich hatte eine andere Aufgabe." "Und was wäre diese vernehmliche Aufgabe?" "Tolga ist schon immer wie ein großer Bruder für mich gewesen. Wir haben uns immer gegenseitig geholfen und so konnte ich ihm auch nicht diese eine Forderung abschlagen. Ich dachte mir anfangs, dass ich das locker schaffen würde. Ich müsste nur mit den Gefühlen eines naiven Mädchens spielen und ihr Vetrauen gewinnen. Wenn möglich, sollte ich sie ausnutzen und sie mental schwächen, ihr wehtun, sobald Umut Kaya sich verplapperte. Ja, dieses Mädchen heißt Özge Kaya und ist die Schwester des Angeklagten. Von Anfang an war es meine Aufgabe, sie auszunutzen. Sie sollte sich wenn möglich in mich verlieben-" Er wollte weiterreden, doch das hielt ich nicht länger aus. Laut rappelte ich mich auf und so wanderten wieder alle Blicke zu mir. Ich kniff meine Augen zusammen, als sich unsere Blicke trafen. Hasserfüllt sah ich ihn an, das war widerlich. "Arschloch.", murmelte ich vor mich hin, doch laut genug, dass er es hörte. Ich kämpfte mich durch und rannte den Gang entlang, wo mich Sicherheitsleute aufhalten wollten. "Lassen sie mich los!", brüllte ich mit zittriger Stimme und total verheult in ihre Gesichter, sodass sie mich losließen. "ÖZGE, WARTE!" Ohne auf diese besinnliche Stimme zu hören, stürmte ich zu meinem Auto und fuhr los. Ich wollte nichts und niemanden sehen, ich wollte alles ausblenden und in mich kehren. Wieso tat gerade er mir so etwas an? Von Anfang an hatte er mit mir gespielt, war ich ihm denn nichts wert? Er hatte es geschafft. Er hatte mein Vertrauen gewonnen, er hatte mir weh getan, er hatte mich ausgenutzt. Ich hatte mich in ein mieses Schwein verliebt.

Ömür Boyu (Ein Leben lang)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt