9. Spaziergang

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Plötzlich stand Gemma auf, kam auf uns zu und in mir wuchs die Panik. Oh nein. Bitte nicht. Mit jedem Schritt, den sie näher kam, raste mein Herz etwas schneller. Louis, du solltest langsam deinen Blick senken, sonst wird es wirklich kritisch. Nur leider, war ich wie fest gefroren und schaute ihr genau ins Gesicht. Ich konnte von Glück sprechen, dass sie irgendetwas in ihrem Handy eintippte und nicht aufsah. Erst wenige Meter vor uns hob sie ihren Kopf, schaute genau in meine Rechnung, wandte den Blick aber schnell wieder ab und in diesem Moment kam ich wieder zu mir und schaute schnell zu Lucy und lächelte sie an. Als Gemma dann an uns vorbei ging, konnte ich im Augenwinkel erkennen, dass sie noch einmal ganz kurz zu mir geschaut hat.


Das war verdammt knapp, Louis.


"Ich muss dann mal wieder, Alex." - "Mach nur, viel Spaß bei der Arbeit.", lachte ich sie ehrlich an. Nur kurz nach ihr stand auch ich auf, um nach drinnen zu gehen. Gerade in der Lobby angekommen, drehte ich mich noch einmal um und beobachtete Harry durch die Scheibe. Gemma kam in diesem Moment wieder und hielt ihrem Brudern einen Pulli hin, ehe sie ihm deutete aufzustehen. Da Gemma scheinbar gerade vom Zimmer kam, würden sie jetzt wohl woanders hingehen. Ohne darüber nachzudenken, folgte ich ihnen langsam und unauffällig.


Sie gingen über das Hotelgelände spazieren und unterhielten sich. Da ich nicht auffallen wollte, hielt ich während des Spaziergangs genügend Abstand. Doch als sie sich dann auf eine Bank setzten, wollten ich unbedingt etwas hören und da kam mir die große Eiche hinter ihnen gerade recht. Ich setzte mich auf den kühlen Rasen und lehnte mich mit dem Rücken an den Stamm.


"Was soll das eigentlich, Gemma?", Harry schien etwas durch den Wind zu sein, wenn ich mich in seiner Stimme nicht irrte, die ich schon so viele Jahre nicht mehr gehört hatte. "Was meinst du?", erwiderte sie. "Das weißt du ganz genau. Du wolltest unbedingt mal raus mit mir, um mich abzulenken, weil wieder der... dieser Tag war und was machst du? Du erzählst mir was davon, dass du einen Typen gesehen hättest, der ihm so ähnlich sah. Das lenkt mich auch nicht wirklich ab."


Wie bitte?! Die reden doch wohl nicht gerade...


"Ja, es tut mir leid. Aber du hättest ihn sehen müssen. Er sah aus wie er, nur älter.... was er ja nun wäre. Und du bist doch derjenige, der immer gesagt hat, es fühlt sich für dich nicht an, als wäre er tot." Ich hielt die Luft an. Harry hat... es gefühlt? Schwer schluckend lauschte ich weiter dem Gespräch. "Ja, schon. Aber wir wissen doch beide, dass ich es mir wohl nur eingebildet habe."


Nein, nein, nein, Harry. Hast du nicht.


Er hörte sich traurig an. Wie in Trance stand ich geräuschlos auf und schlich mich immer näher an sie ran, bis ich nur noch etwa zwei Meter hinter ihnen war, ich wollte ihn so gerne trösten. Wenn sich einer von beiden jetzt umdrehen würde, wäre mein Versteckspiel vorbei. Mein Herz klopfte wie wild und meine Hände schwitzten vor Nervosität. "Und was wenn nicht, Harry? Ich weiß, die ganzen Jahre habe ich etwas anderes gesagt, aber hast du... " - "Gemma, hör bitte auf. Das bringt doch alles nichts. Er war es nicht. Es war einfach nur irgendein Typ, der ihm wohl ähnlich sah, sowas soll es geben... Er wird immer ein Teil von mir bleiben, aber es ist doch schon so lange her und lange waren wir auch nicht zusammen. Außerdem... liebe ich doch Jake. Ich will ihm nicht unfair gegenüber sein."


Harry hatte einen Freund.


Er hatte mich nicht vergessen, aber eine neue Liebe gefunden. Das war doch genau das, was ich mir für ihn gewünscht hatte. Lächelnd ging ich langsam wieder ein paar Schritte zurück und lehnte mich wieder an die Eiche, als ich Harrys Stimme hörte: "Gemma? Magst du mich noch ein wenig alleine lassen? Ich komme bald nach." - "Na klar doch, Bruderherz. Bis gleich.", sagte sie und gab ihrem Bruder einen Kuss auf die Wange, bevor sie aufstand und sich wieder Richtung Hotel machte.


Ich konnte hören, wie Harry seufzte, den Kopf in den Nacken legte und in den inzwischen dunklen Himmel schaute. Über was er wohl nachdachte? Ich versuchte mir dieses Bild so gut wie möglich einzuprägen, denn ob ich ihn jemals wiedersehen würde? Wohl kaum...


"Ach Lou, über elf Jahre bist du nun schon da oben... ", murmelte der Lockenkopf und über meinen Körper zog sich eine Gänsehaut. "... wie gerne würde ich fragen, wie es da oben ist. Du feierst bestimmt mit Lottie und Fizzy unendliche Partys und singst sie alle in Grund und Boden, hm?" Eine bedrückende Stimmung trat ein und es fühlte sich plötzlich so falsch an, dieses intime Gespräch zu belauschen, obwohl es irgendwie um mich ging. Ich sollte gehen. Aber meine Beine wollten sich einfach nicht bewegen.


"Weißt du... ich wollte hier Urlaub machen... mich ablenken von deinem Todestag.... abschalten... Aber irgendwie... " Er lachte kurz auf und fuhr sich durch die Locken. "... aber irgendwie fühle ich mich dir näher als je zuvor. Warum Lou? Kannst du mir nicht irgendein Zeichen aus dem Himmel schicken, hm?" Ich erschrak kurz, als ich etwas feuchtes auf meinen Händen spürte. Ohne es zu merken, hatte ich angefangen zu weinen. Ich weinte? Das habe ich seit Jahren nicht mehr getan. Nicht mal bei der überstürzten Trennung von Ben.


"Du bist mir näher als je zuvor.", flüsterte ich so leise, dass er es unmöglich hören konnte, doch ich sah, wie Harry sich schüttelte.


"War es das? Sollte das das Zeichen sein, was du mir aus dem Himmel geschickt hast? Du hast mir einen Schauer über den Rücken gejagt? Du magst es wohl immer noch mich zu ärgern, hm?", sprach Harry leise und ich hörte wie er lächelte, doch irgendwie war da noch etwas. Verwirrung?


Eine ganze Weile hörte ich nichts mehr, so dass ich mich wagte, ganz vorsichtig um den Baum zu schauen. Harry saß nicht mehr auf der Bank, er schien also gegangen zu sein. Ich stand langsam auf, lehnte mich jedoch noch einmal an den Baum und schaute in den Himmel, um das eben Erlebte zu verarbeiten.


Er wollte also ein Zeichen, ja? Vielleicht sollte ich mich doch zeigen. Was wäre schon dabei? Wir könnten etwas quatschen und uns erzählen, was so die letzten Jahre passiert ist. Ich würde erfahren, wie es Niall, Liam und Zayn ergangen ist... Und dann? Dann wäre Harrys Urlaub vorbei und er wäre wieder weg... Kopfschüttelnd über meine Gedanken, machte ich mich langsam auf zu meinem Wagen. Was für eine dämliche Idee. Harry lebte so, wie ich mir es für ihn gewünscht hatte. Er hatte mich nicht vergessen, lebte aber in einer glücklichen Beziehung mit einem Mann namens Jake und das machte ich mich zufrieden.


Mit diesem Gedanken setzte ich mich in mein Auto und fuhr nach Hause.



Lover or Liar - Part II - Larry StylinsonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt