Kapitel 4

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~ Hazel ~

"Es ist unerfreulich. Ich muss sagen, Sie haben... Aids."

Das erste, was mir einfällt, ist ein Widerspruch. "Was? Nein, das kann nicht sein, Sie müssen sich irren!", rufe ich empört aus, wie eine Schülerin, der Unrecht getan wurde. Doch der Pfleger sieht mich nur mitleidig an. "JJ...? Sagen Sie doch es doch einfach... bitte...", flehe ich und werde immer leiser. Letzteres geht langsam in ein bitterliches Schluchzen über. 

"Ich denke nicht, dass ich mich irre. Es tut mir wirklich leid, aber Sie sind schwerst krank. Selbst Ihre Gehirnzellen sind mittlerweile betroffen. Durch einen Regelmäßigkeitstest haben wir festgestellt, dass sie in den vergangenen Wochen bereits achtzehn Mal zusammengebrochen sind und es nicht einmal bemerkt haben..."  Plötzlich höre ich nur noch die Hälfte seiner Worte. Alles verschwimmt und etwas neben mir fängt schrecklich laut an zu piepen. "Au, ist das laut, stellen Sie es ab!", brülle ich gegen den Lärm an, doch JJ sieht mich bloß verständnislos an, ab meinem Gebrülle springt er auf und rennt aus der Tür hinaus. Ich verstehe es nicht, wieso schaltet er nicht einfach dieses Gepiepe ab? 

Ich sehe nach rechts und entscheide mich dazu, das selbst in die Hand zu nehmen, da fällt mir auf, dass es gar kein Pieps-Ding gibt.

***

Nachdem die Ärzte mir mehrere Spritzen und Tabletten gegeben haben, als ich wieder erwacht bin, geht es mir wieder etwas besser, zumindest ist dieses Piepen weg. Wieder sitzt JJ neben mir, dieses Mal hält er sogar meine Hand, da diese ab und zu ganz merkwürdig zuckt, ohne, dass ich etwas dagegen tun kann. Er redet ein wenig mit mir über die Krankheit und ich bin so träge, dass ich nur das Wichtigste zu hören bekomme und nicht einmal die Kraft zum Weinen habe. Mir laufen lediglich ständig Tränen über die Wangen, zeitweise lausche ich den Worten des Pflegers nur mit geschlossenen Augen. 

Müde höre ich JJ dabei zu, wie er mir meine Krankheit näher bringt. Dass Aids die Folge von HIV ist und ich so keine Chance mehr gegen die alles zerstörenden Viren habe. Ich kann nur hoffen, dass ich noch mehr als ein paar Monate habe. Vielleicht sogar nur noch Wochen. Und, dass es ein Wunder ist, dass ich bis jetzt nicht schon längst im Krankenhaus gelandet bin. Scheinbar fanden jegliche Zusammenbrüche in meiner Wohnung statt.

Langsam spüre ich, wie mir weitere, heiße Tränen die Wangen herunterlaufen. Es ist schwer, das alles auszuhalten. Ich werde sterben. Als ein unnötiges Häuflein Elend. Trotzdem nicke ich am Ende von JJ's Rede und richte dann den Blick an die gegenüberliegende Wand.

"Ich möchte Sie wirklich nicht noch weiter belasten, Miss, aber ich schlage eine Ortsänderung vor. Es gibt da ein Hos-", fährt er fort, doch ich unterbreche ihn. Plötzlich kehrt meine Stimme zurück. Meine Sinne sind alle wieder bei mir und ich sage gedämpft, als spräche ich zu meinem Todfeind: "Nein. Sagen Sie jetzt bitte nicht Hospiz, sagen Sie alles, JJ: Notaufnahme für irgendwas, Aids Helferstation oder einfach nur der Raum gegenüber für Aidskranke, aber, JJ, sagen Sie niemals Hospiz." Er nickt etwas überrascht, mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet- genauso wenig wie ich.

"Okay, Miss, dann schlage ich vor, Sie bleiben vorerst hier, vielleicht... ändern Sie Ihre Meinung ja noch...?" Ich lasse zur Antwort den Kopf hängen und frage nur leise, ob meine Eltern schon davon wüssten. Er schüttelt den Kopf. "Okay", sage ich und meine Stimme wird erneut brüchig, "dann sagen Sie ihnen doch, dass ich im Krankenhaus bin und um ihre Anwesenheit bitte. Sagen Sie ihnen aber nicht den Grund, das kann ich nicht per Telefon und Sie werden es auch nicht tun, ja?" Er nickt verstehend. "Dankeschön." Der Mann mittleren Alters bezeugt mir, dass es nicht der Rede wert ist, doch ich bin mir sicher, dass er das anders sehen wird, sobald er meine Mutter am Telefon hat. Allerdings würde wohl kein Elternteil dieser Welt normal reagieren, wenn der Nachwuchs in einem anderen Land im Krankenhaus liegt- oder allgemein im Krankenhaus liegt. Nicht einmal meine Eltern unterscheiden sich da von der Norm.

"Möchten Sie vielleicht mit einem der Helfer zu sich nach Hause und einige ihrer wichtigsten Sachen holen?", fragt nun der Mann im weißen Kittel und ich nicke, fahre mir dabei mit der Hand durch die Haare. Als er nach einer Viertelstunde den Raum verlässt, zeigt er mir noch wo der Knopf für den Notfall ist und verschwindet dann. Ich sehe mich in meinem Zimmer erneut um. Man hat mir bereits gesagt, dass ich in ein anderes Zimmer komme. Sie haben es nicht wörtlich so gesagt, aber man bezeichnet das hier als den Korridor mit den Zimmern der "hoffnungslosen Fälle", das heißt allen den, denen man ohnehin nicht mehr helfen kann. Ich will dieses Leben nicht mehr, es fühlt sich nicht länger echt an.

Wir Menschen schreiten mit dem Gedanken durch die Welt, dass uns das Unglück schon nicht treffen wird. Wir schaffen das schon, wir können bei Rot über die Ampel gehen und uns passiert nichts. Wir tun es einhundert Mal und leben immer noch. 

Jemand anderes geht ein einziges Mal während einer roten Ampelphase über die Straße und wird von einem Auto erfasst. 

"Aber Hauptsache es hat nicht mich getroffen", das ist das Einzige, was wir dann denken können. Selbst beim größten Mitleid und der größten Trauer um das Leben dieses Menschen, innerlich sind wir erleichtert, dass nicht wir an seiner Stelle unter der Erde oder auf der Intensivstation liegen. Wieder haben wir es heil über die Straße geschafft. Wieder hat es jemand anderen getroffen.

Wenn es einen dann doch trifft, scheint sich alles zu drehen. Die Ampel war rot und wir haben es die ganze Zeit übersehen. Alle waren schon längst heil auf der anderen Seite angekommen, nur wir stehen noch dort und beobachten die herankommenden Autos. 

Und dann knallt es. 

Beautiful EyesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt