Kapitel 6

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~ Hazel ~ 

Um Mitternacht liege ich nach wie vor wach und sehe durch das Fenster zu den Sternen. Die Nacht ist klar, keine Wolke schiebt sich vor das wunderbare Schwarz der Nacht. 

Nachdem ich meinen Eltern diese vernichtenden Worte an den Kopf geworfen habe und meine Mutter mich noch kurz und mit einem einzigen Schlag misshandelt hat, sind sie wortlos gegangen und haben kein Wort mehr überliefern lassen. Kein Abschied, kein Gruß. Plötzlich eine Welt ohne Eltern. 

Ich sehe auf meinen Wecker, der direkt neben mir steht. Eine Minute nach Mitternacht. Ich habe nur eine Minute damit zugebracht, mit dem Verschwinden meiner Eltern aus meiner Welt klarzukommen.

Nach einigen weiteren Minuten habe ich das Gefühl, dass mich der frische Wind der Nacht zu sich ruft. Ich möchte endlich wieder den Wind um meine Nase spüren. Aber mir reicht das Fenster nicht. Ich will raus. Raus und weglaufen, das, was ich mir immer gewünscht aber nie getraut habe, als ich klein war. 

Und ich halte das für eine gute Idee. Wieso nicht? Ich habe nur noch einige Tage meines Lebens vor mir, keine Eltern, die ich zurücklasse... nur eine beste Freundin. Sie wohnt in der Nähe von London, allerdings wird sie demnächst heiraten und dann... zieht sie weg. Nach New York, die Stadt ihrer Träume. Und ohnehin wird sie nichts mehr von mir haben, ob ich nun hier oder draußen sterbe. 

Unter leichten Schmerzen schwinge ich meine Beine aus dem Bett und ziehe den Tropf mit mir mit. Ich öffne das Fenster, welches sich im dritten Stock befindet und sehe hoch zu den Sternen. Die Stille, die sich bildet wenn ich nicht gerade Musik höre, wurde in der letzten Zeit mein bester Freund. Ich bete innerlich, dass ich es schaffe. Es schaffe, hier raus zu kommen. Und ich weiß, dass es schwer sein wird, zum Ersten, weil meine Beine schwer wie Blei sind, zum anderen, weil die Nachtwachen sicherlich was dagegen haben.

Bevor ich allerdings an meinen Zweifeln scheitere, muss ich mir etwas anderes anziehen. Ich gehe hinüber zum Kleiderschrank und suche mir eine Jeans und einen Pullover raus. Da es Hochsommer ist, wäre es wohl nicht allzu schlimm, wenn ich keine Jacke dabei hätte. Aber weil ich nicht weiß wie das Wetter morgen wird, nehme ich doch eine mit. Und außerdem... wir sind hier in Engalnd. So etwas wie einen wirklich warmen Sommer kennt man kaum.

Nun bleibt noch die Frage offen, wo ich meinen Tropf lassen soll. Er würde in einigen Stunden ohnehin ausgewechselt werden, also macht es bestimmt nichts, wenn ich ihn hier lasse. Ich setze mich auf das breite Bett mit der sterilen, weißen Bettdecke und dem dazu passenden Kissen und mache mich daran, das Klebeband, das die Nadel festhält, von meinem Arm zu entfernen. Dann setze ich meine Finger an die Nadel und überlege kurz- tue ich es wirklich? Will ich wirklich abhauen? 

Die Gedanken an das Für und Wider sprechen für sich.

Schnell ziehe ich die bereitgelegten Sachen an und öffne leise die Tür zum Hauptflur. Ich schlüpfe aus dem Zimmer und mache noch einen kurzen Abstecher zur Toilette. Wer weiß, wann ich das nächste Mal gehen kann. Anschließend entdecke ich die Nachtwache, die an ihrem Posten sitzt und eine Zeitschrift durchliest. Ich bekomme ein wenig Angst, sie könnte mich erwischen und die Schwestern alarmieren. Ich nehme einen anderen Gang und sehe, dass der Eingang für die Notfälle offen ist. Ohne nachzudenken schreite ich hinaus.

Die frische Luft dringt in meine Lungen und ich gehe ein paar Schritte ohne mich umzusehen. Ich laufe von Schatten zu Schatten, damit mich die, die noch wach sind nicht bemerken- mit Erfolg. Ich verlasse ohne Probleme das Grundstück und werfe meinen Eltern, die mich nicht sehen können, einen Luftkuss zu. Das ist keinesfalls eine Geste der Zärtlichkeit, es ist eher der ignorant zugeworfene Luftkuss einer endlich freien Unterdrückten. Wenn ich nicht gerade heimlich abhauen würde... würde ich schreien. So gut geht es mir.

Beautiful EyesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt