Kapitel 11
Der älteste Polizist in Ethans Team war der wohl angenehmste Zeitgenosse, den Selene jemals begegnet war und erinnerte sie in seiner Freundlichkeit an Sheriff Henry aus ihrem Heimatort. Er brachte ihr eine Decke, einen Kaffee und ein Sandwich, während er sie in eines der Verhörzimmer führte, in dem Selene aus dem Staunen nicht mehr herauskam.
Das war definitiv keine der dreimal drei Meter großen Räume mit kalten Wänden und einen riesigen Einwegspiegel gegenüber einem Metalltisch, wie es ihr das Fernsehen immer dargestellt hatte. Es war ein Raum, in den drei längliche Tische in einer Reihe standen und um jeden von ihnen mindestens vier Holzstühle, die sie an ihre Schulzeit erinnerten. Es gab keine kalten Wände, nur normale cremefarbene Tapete, die dringend noch einmal hätte überstrichen werden müssen. Einige Topfpflanzen standen in den Ecken und auf den Fensterbrettern. Ja. Es gab sogar ein Fenster.
„Wow. Ich habe gedacht ich werde in ein Loch gebracht ohne Tageslicht", witzelte sie und setzte sich ihm gegenüber an den ganz linken Tisch. Er stellte eine kleine Kamera auf und lächelte zurück.
„Sie wissen schon, die die man immer im Fernseher sieht", faselte sie weiter und spürte, wie sie langsam nervös wurde. Sie musste eine Aussage machen, das war ihr von Anfang an klar gewesen, aber bei dem Gedanken, sie müsste erklären, warum sie nicht zur örtlichen Polizei ging, wurde ihr übel.
„Die gibt es tatsächlich, allerdings nur in Gefängnissen. Es bringt uns sehr wenig, wenn die Leute, die wir befragen, sich unwohl fühlen. Lassen Sie sich von der Kamera nicht stören, Miss James", sagte er und schob die Kamera auf dem Gestell etwas beiseite. Sie war deutlich auf Selene gerichtet, aber er war augenscheinlich sehr bemüht, dass sie halbwegs aus ihrem eigenen Sichtbereich verschwand. Sie sollte sich ja wohlfühlen...
Dann begann er.
„Fürs Protokoll. Ihr Name ist Selene James, wohnhaft in New Hollow Virginia und sie sind heute zu uns gekommen, weil Sie eine Aussage über einen Serienkiller machen wollen", begann er und der professionelle und routinierte Klang seiner Stimme gab ihr etwas Halt. Es beruhigte sie ein wenig und sie schluckte den Klos in ihrem Hals herunter, bevor sie hektisch nickte, dann aber inne hielt.
„Nein. Also ja, das ist alles richtig, aber er ist kein Serienmörder", sie blickte nervös zur Kamera, kam sich plötzlich dumm vor, wollte, aber nicht, dass man sie für unwissend hielt. Das war sie nicht, das war sie nie gewesen. „Man gilt doch erst ab drei Morden als Serienmörder, oder?", fragte sie schüchtern und sah in Dereks dunkelgraue Augen. Eine kurze Abfolge von Erinnerungen flackerte in ihrem Kopf auf. Er hatte Kinder, einen Enkel und seine Frau war vor einigen Jahren an einer Lungenentzündung gestorben.
Selene brach den Blickkontakt ab. Ihre Gabe aktivierte sich eigentlich nur selten von alleine und dafür war sie mehr als dankbar. Die Privatsphäre anderer Leute stand für sie an erster Stelle, aber manchmal passierte es einfach, sodass zumindest grobe Informationen ans Licht kamen. Nichts Schlimmes, nur Eckdaten, die man meist auch ergoogeln konnte.
„Nicht ganz, aber ich verstehe, dass sie nicht überdramatisieren wollen. Erzählen Sie mir, was passiert ist. Mir. Nicht der Kamera", forderte er verständnisvoll und lächelte beruhigend. Selene sah ihn wieder an. Diesmal blieb ihre Kraft da wo sie hingehörte: unbenutzt in der Ecke ihres Verstandes.
„Meine Großmutter war Kartenlegerin und wurde von einem Kunden getötet, der mit ihren Aussagen nicht ganz einverstanden gewesen schien. Er hat es gestanden und sitzt momentan in einer geschlossenen Anstalt", begann sie und wusste nicht so recht, ob sie so weit ausholen sollte, aber Agent Derek nickte ihr nur ermutigend zu und ließ sie reden.
„Vor wenigen Wochen ist ein kleiner Junge aus unserer Gemeinde verschwunden. Karl Hollow, seine Familie ist alt und sehr angesehen in der Gegend. Er war ein guter Junge und ich fand ihn zerfetzt auf meiner Terrasse. Man hatte ihm die Augen herausgerissen, genau wie meiner Großmutter damals und ..." sie stockte und Derek blieb geduldig. „Da war ein Einwegglas mit Großmutter Hannas Augen darin."
Erst als sie fertig war, fiel Selene auf, dass ihre Worte nicht gerade in einer verständlichen Reihenfolge und schon gar nicht logisch und vernünftig klangen. Doch das erwartete Derek offensichtlich auch nicht.
„Okay. Wo ist dieses Glas jetzt?", begann er mit seinen Fragen. „Bei Ethan", entfuhr es ihr plötzlich und Derek hob eine angegraute Augenbraue nach oben. Ihm war natürlich nicht entgangen, dass sie Ethan beim Vornamen nannte und so schob er die grausigen Detailfragen über Karl und Hanna nach hinten und kam zu einem sehr viel unangenehmeren Teil der Geschichte.
„Sie meinen damit Agent Ethan McAllan. Woher kennen Sie ihn?" Oh Gott, mit dieser Frage hatte sie früher oder später gerechnet, aber hatte immer noch keine einwandfreie Antwort darauf. McAllan zu sagen – und ja sie würde ihn ab jetzt nicht mal in Gedanken mit dem Vornamen ansprechen – dass sie Alice war, war schon schwer gewesen und sie hätte es wahrscheinlich auch Derek gesagt, aber nicht wenn sie aufgenommen wurde.
„Ich will sie nicht anlügen, deswegen möchte ich diese Frage lieber nicht vor einer Kamera beantworten." Derek nickte nur, aber anstatt das Gerät auszuschalten, womit sie eigentlich gerechnet hatte, machte er einfach weiter. Wieder mit unangenehmen Fragen.
„Warum sind Sie nicht zur örtlichen Polizei gegangen? Haben Sie sich da gemeldet?" Sie schüttelte den Kopf und wirkte ehrlich verlegen.
„Ich hatte Angst, sie würden glauben, dass ich Karl das angetan habe." Das schien Derek hellhörig zu machen.
„Gib es dafür Gründe?" Selene grinste breit und hatte keine Probleme mit ihrer folgenden Antwort.
„Das brauchen sie nicht. Meine Großmutter war Kartenlegerin und ich bin dazu in der Lage heilende Salben herzustellen. In einem Provinznest wie NewHollow, wo man seine Kinder zur Sonntagsschule schickt und selbst nie eine Messe auslässt, was glauben Sie was man dort von so einer Familie hält?"
Dereks Blick verlor für eine Sekunde seinen professionellen Abstand und wurde mitfühlend. Doch er fing sich schnell wieder.
„Ich kann es mir vorstellen, muss es aber aus ihrem Mund hören." Das wusste Selene, doch sie wusste nicht, ob sie das ohne triefenden Sarkasmus hinbekommen würde. Sie mochte die Bitterkeit nicht, die sich in ihre Kehle sammelte. Aber sie musste heraus, sonst würde sie irgendwann daran ersticken.
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Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1
Mystery / ThrillerSeit vier Jahren unterstützt Selene mit ihren Fähigkeiten unter dem Pseudonym Alice das FBI bei ihren Ermittlungen. Aber als eine Serie von grausamen Verbrechen ihre Heimatstadt in Angst und Schrecken versetzt, wird es persönlich. Selene muss einseh...