Frustrationsgrenzen

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Kapitel 50


Selene spürte den Frust in sich aufsteigen, als sie wieder eines der Bücher beiseite legte und endlich einsah, dass sie die Frau mit dem Tattoo niemals irgendeiner dieser Klientenbeschreibungen würde zuordnen können.
„Ich weiß gar nicht was ich mir dabei gedacht habe. Dass Großmutter eine detaillierte Beschreibung von körperlichen Merkmalen festhält? Wir finden sie hier nie", stöhnte sie und ließ ihren Kopf auf die Tischplatte fallen, um für einen Moment die Augen zu schließen.
Eigentlich hatte Ethan vorgeschlagen, die Tagebücher im Hotelzimmer zu durchsuchen um den Erfolgsdruck aus dem Weg zu gehen und nicht all zu verkrampft an die Sache heranzugehen. Aber dennoch war sie jetzt genau an diesem Punkt.
„Du bist nur frustriert, das legt sich, sobald du endlich deinen Kakao getrunken hast", murmelte Ethan und blätterte hoch konzentriert eine Seite weiter und suche  nach irgendetwas, was sie weiterbringen würde.
Selene hob den Kopf und griff nach ihrer mittlerweile nur noch lauwarmen Tasse und lehnte sich auf dem Stuhl zurück, während sie Ethan missmutig beobachtete. Diese stille Herangehensweise war faszinierend ebenso, mit wie viel Geduld er sorgfältig alles durchblätterte. Er hatte auch noch nichts verwendbares gefunden und sie bewunderte seine Ausdauer.
„Die Frage ist doch, warum du nicht frustriert bist", murmelte sie und zog einen Schmollmund als er von der Couch aus den Kopf hob und sie anlächelte. Feine Lachfältchen bildeten sich um seine Augen, die sie am liebsten sofort wieder glatt gestrichen hätte.
„Meine Frustrationsgrenze ist weitaus höher, das ist normal. Man gewöhnt sich daran Spuren nachzugehen die letztendlich doch zu nichts führen, es sind meistens die Dinge die man zufällig entdeckt, die einen weiter bringen", erklärte er sanft und rutschte beiseite, bevor er einladend auf den Platz neben sich klopfte.
Selene folgte diesem Lockruf und ließ sich direkt neben ihn plumpsen während er wieder eine Seite umblätterte. Auf den Couchtisch neben einen weiteren Stapel von Büchern stand sein offener Laptop, wo ein Ferienplan ihrer Schuljahre zu finden war, mit denen sie die möglichen Tage identifiziert hatten, sowie ein Bild von dem Tattoo an das sich Selene so gut erinnern konnte. Wieder versuchte sie angestrengt zusammen zu bekommen, in welchem Jahr das gewesen war. Aber ihr viel absolut nichts ein, was sie weiter Schmollen ließ und sie sich an ihn lehnte, um nicht komplett zu verzweifeln.
Ethan sah wieder von der Arbeit auf als Selenes Schulter die seine berührte und sie mit einem kurzen zucken in den Lippen bedachte.
„Na, braucht das Kätzchen ein wenig Streicheleinheiten, oder will es mich nur Sicherheit wiegen bevor es wieder zu beißt?", fragte Ethan und Selene verengte die Augen. Sie war nicht wirklich zickig und wenn sie es war dann nur sehr kurz und sich mochte es nicht, wenn er sie wie ein Kind behandelte. Ja, im Gegensatz zu ihm war sie jung, aber das hatte ihn gestern Nacht nicht gestört, als er mit ihr geschlafen hatte. Und das verdeutlichte sie ihm mit ihrem Blick sehr deutlich.
„He, Baby zieh die Krallen wieder ein, ich wollt nicht-"
Der Laptop gab einen aufgeregten Ton von sich bevor Ethan sich weiter um Kopf und Kragen reden konnte und Ethan strich ihr einmal entschuldigend über den Arm, bevor er den einkommenden Videoanruf annahm und lediglich ein schwarzer Bildschirm aufpoppte anstatt einem Gesicht.
„Hey ihr beiden, ich störe Eure Lesestunde ja nur ungern aber die Gerichtsmedizin hat ihre ersten Ergebnisse freigegeben", erklang Lindsays Stimme.
„Lin, du hast immer noch die Klappe auf der Linse", sagte Ethan und es ertönte ein kurzes >Oh<, gefolgt von etwas rascheln und dann sahen sie gemeinsam in Agent Lindsey Halls Gesicht. Sie sah müde aus, ihre sonst so schöne dunkle Haut wirkte blass und die dunklen Ringe unter ihren Augen fast schwarz.
„O'Brien hat die Schnellautopsie nochmal angepasst. Die Leichen sind zwischen einem halben und zwanzig Jahren alt. Zudem hat er die Anzahl auf fünfundzwanzig erhöht, einschließlich dem Jungen Karl Hollow und dem ehemaligen Sheriff, seiner Frau und den beiden Töchtern. Die Spurensicherung hat weitere halb geöffnete Gräber gefunden, die er wohl nicht angehangen hat, weil da nur noch Knochen waren", rasselte sie runter und rieb sich dabei die Stirn. Das waren furchtbare Neuigkeiten, die Selene kurz erstarren ließen, aber Ethan schien es gar nicht all zu sehr zu schockieren, er dachte nach. Seine Miene war hart und ruhig und er...
„Lindsey haben wir zwei Mörder?", fragte er und Lindsey nickte lediglich leicht. Sie sah mitgenommen aus, während sie begann zu sprechen.
„Wahrscheinlich. Wenn er so lange mordet, lässt er sich nicht von einer alten Frau in der Nachbarschaft Angst einjagen und versucht schreckartig eine Verteidigung aufzubauen, die aus einem zweitklassigen Thriller stammen könnte. Das passt eher zu einem Anfänger, als zu einem arroganten Mistkerl der einer Informantin des FBI ein Einmachglas mit den Augen ihrer Großmutter schickt. Verzeih mir die drastischen Worte", die Entschuldigung ging an Selene die lediglich nickte.
„Und da ist noch etwas, aber das sollte Dean euch sagen. Ich leg mich nochmal hin", hängte Lindsey an und schaltete um auf einen Bildschirm auf dem Selene Dean Mils, einen ziemlich jungen Mann mit asiatischen Wurzeln, sah, der nach einen Blick auf Selene eine breites Grinsen auf den Lippen hatte.
„Alice. Was für eine nette Überraschung", hauchte er und sah ihr fast schon träumerisch entgegen, bis Ethan gezwungen war sich zu räusperte um den jungen Mann aus seinen Tagträumen zu zerren.
„Dean, Lindsey meinte, du hättest etwas für uns", gab Ethan den Anstoß und das Grinsen blieb auf dem Gesicht während Dean seinen Boss ansah.
„Ja, oh Captain, mein Captain. Ich habe für dich den Sieg des Informationszeitalters über die traditionellen Ermittlungsmethoden des FBI, an denen ihr so hängt", grinste er und auf plötzlich erschien das Bild einer Frau auf dem Bildschirm.
„Das ist Margareta Jill Donaski, sie verschwand vor fünfzehn Jahren und eine der einprägsamsten Merkmale, die man bei der Vermisstenanzeige öffentlich gemacht hatte, war unter anderen den Hinweis auf eine Tätowierung eines Schmeterlings mit nur einem Flügel."
Kurz war es still um sie herum, aber dann schüttelte Selene den Kopf.
„Nein, fünfzehn Jahre ist zu viel, solange ist meine Beobachtung nicht her, da war ich noch in der Grundschule und ich-"
„Ich weiß, aber sie ist auch nicht unser Opfer", sagte Dean und schob das Bild der Leiche mit der Tätowierung über ein altes Bild der Vermissten mit dem Tattoo. Das war dasselbe Bild, allerdings fehlte jeweils die andere Seite des Flügels. Der gefundenen Leiche fehlte der linke und bei Margareta der rechte Flügel.
„Ein Zufall?", fragte Ethan nach und Dean grinste weiter. „Nope. Denn unsere Leiche mit der Nummer acht hat ab heute einen Namen: Lidia Donaski, Margaretas Schwester."

Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt