Lügen und Wahrheiten

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Kapitel 60


Niemand musste Selene sagen, dass der junge Mann, der kaum älter als sie selbst zu sein schien, ihr Bruder war. Kein Halbbruder, kein Stiefbruder. Er war ihr Bruder und das sah man ihm an. Seine kurzen roten Haare wirkten einen Hauch dunkler als die ihren, aber sie waren unverkennbar das Erbe ihres Vaters, genauso wie die grünen Augen, die bei ihm allerdings ziemlich trüb wirkten. Er sah nicht gesund aus. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen und seine Wangen waren eingefallen, als hätte er ewig nicht mehr richtig gegessen oder geschlafen. Die blasse Haut, die auch Selene hatte, erschien bei ihm mit einem grauen Schimmer... Und obwohl ihr das alles bekannt vorkommen sollte, war es das nicht. Er war ihr Bruder, aber sie kannte ihn nicht, erinnerte sich nicht an ihn und spürte auch keinerlei Verbindung zu ihm. Er war ein Fremder und vermutlich auch ein Mörder.
Sein Blick blieb uninteressiert, er schaukelte fast gelangweilt hin und her und schien sich keine Sorgen darum zu machen, hier einfach zu sitzen und sie anzustarren.
„Du bist hier", begann er emotionslos und während Selene den Klos in ihrem Hals herunterschluckte, nickte sie träge. Zu ihrer Überraschung hatte sie keine Angst. Ihr Bruder sah nicht besonders furchteinflößend aus und wirkte auch nicht aggressiv.
„Du solltest nicht hier sein", sprach er weiter und legte den Kopf leicht schräg, wobei seine Haare auf die Seite fielen und eine hässliche, liederlich geschorene Stelle an der Seite seines Kopfes offenbarte in dessen Zentrum sich eine schlimm zerklüftete Narbe entlang zog.
„Gus", begann Selene um überhaupt endlich etwas zu sagen, das zögerliche Lächeln auf ihren Lippen fiel ihr besonders schwer. Sie hätte gedacht irgendetwas für diesen Mann zu empfinden, zum Beispiel Wut, wie bei ihrer Mutter. Aber das Gegenteil von Liebe war nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit. Bruder hin oder her. Sie kannte ihn nicht, er war lediglich ein Mörder, der zur Strecke gebracht werden musste.
„Oh, ist schon okay. Ich weiß, dass du dich nicht an mich erinnerst. Ich erinnere mich auch nicht an dich. Ich erinnere mich auch nicht an sie. Erinnerst du dich an sie?" fragte er schnell hintereinander und deutete dann auf das Haus hinter ihr. Er meinte ihre Mutter und Selene empfand dieses Thema als einen guten Einstieg darin, sich mit ihm zu unterhalten. Er hatte keine Angst, schien nicht aufgeregt, seine Gelassenheit gab ihr die Möglichkeit ebenfalls unemotional zu handeln. Sie durfte keine Fehler machen, schließlich brauchten sie Antworten von ihm die sie in so einer Situation leichter bekommen würde als in einen Verhörraum.
„Ein wenig. Sind keine schönen Erinnerungen", gestand sie und für einen Moment trat Bedauern in den blassgrünen Blick ihres Bruders.
„Sie hat dich auch weggegeben" Das er das wusste überraschte sie nicht aber ihre Mutter war nicht das, über was sie wirklich sprechen wollte.
„Was machst du hier?", fragte Selene ganz offen. Eine normale Frage, wie man sie einem Bruder stellen konnte, ohne aggressiv zu wirken.
„Er hat gesagt, ihr würdet hier sein. Würdet schnüffeln kommen, sobald ihr wisst, dass ich es war", war die Antwort und nun versteiften sich Selenes Schultern doch ein wenig, den letzten Satz brachte er mit einem Hauch Ärger hervor, der einmal mehr deutlich machte, dass sie hier nicht mit einem normalen, jungen Mann sprach. Dennoch versuchte sie sich ihre Anspannung nicht ansehen zu lassen.
„Was warst du?", fragte sie weiter und wünschte sich ein Befragungsspezialist zu sein wie Derek. Sie hatte keine Ahnung, wie man Dinge aus Leuten herauslockte. Aber sie konnte schließlich nicht einfach hier herumstehen und sich über das Wetter unterhalten. Er hatte sich ihr gezeigt, also war er bereit zu reden.
„Ich hab sie ausfgehangen. Er hat sie verbuddelt und ich hab sie ausfgehangen", sagte er und gab damit bedauerlicherweise nichts preis was sie nicht schon gewusst hätten. Die Leichen waren zu alt, als dass er sie alle getötet haben könnte, aber seine DNA war an den Seilen. Es gab zwei Mörder. Ihr Bruder war nur der Handlanger und vielleicht der einzige Weg an den anderen Mörder heranzukommen.
„Wer ist er?", fragte Selene frei heraus aber Gus zuckte lediglich mit den Schultern, bevor er ihr tatsächlich antwortete.
„Er sagt er heißt James, normalerweise merke ich es, wenn Leute lügen. Ich hasse es, wenn Leute Lügen. Er ist ein guter Lügner. Er hat gesagt, er tut mir nicht weh...", Gus deutet auf die Narbe an der Seite seines Schädels, „Er hat gelogen", sagte er wieder schnell hintereinander und drückte damit eine Nervosität aus, die im scharfen Kontrast zu seiner lässigen Haltung stand. Als würde er etwas vorspielen, aber was spielte er? Die Gelassenheit oder die Nervosität.
„Was ist da passiert?", fragte Selene und versuchte Bedauern in ihrer Stimme mitschwingen zu lassen. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und sein Blick wurde flehend
„Ich... wollte ihn aufhalten. Ich wollte nicht mehr, dass er diesen Leuten weh tut, dann wollte er auch mich vergraben. Ich bin weggelaufen und hab sie ausfgehangen. Ich wollte euch helfen. Dir helfen, du hast dich mit sowas beschäftigt", sagte er wieder schnell und in seiner Stimme klang Traurigkeit mit, die sich auch kurz in seinen Augen widerspiegelte und dann wieder verschwand. Wie etwas was er heraufbeschworen hatte, was er nicht aufrechterhalten konnte. Er fühlte nicht und Selene wusste, dass er log, dass er lediglich versuchte hektisch zu wirken, flehend und traurig. Aber er spürte nichts von alldem. Auch wenn er versuchte ihr etwas anderes vorzugaukeln.
„Warum bist du nicht zur Polizei gegangen?", fragte sie und versuchte Mitleid in ihren Worten mitschwingen zu lassen, obwohl sie das ebenso wenig wie er tatsächlich empfand. Es war ein ständiges Umkreisen, sie versuchten einander etwas vorzumachen und so etwas wie Vertrauen aufzubauen. Schließlich waren sie eine Familie, eine Familie die sich jederzeit gegenseitig vernichten konnte.
„Ich hatte Angst. Er hätte mich finden können", wieder eine Lüge, es machte keinen Sinn. Gus war nicht weggelaufen, er hatte schließlich erst vorhin erwähnt, dass dieser Mysteriöse ER ihn hier hergeschickt hatte, weil dieser wusste, dass sie hier waren. Angeblich. Ihr Bruder war nicht besonders clever, was das Aufbauen seiner Verteidigung betraf, schließlich hatte Das FBI diesen Teil des Plans bereits durchschaut. Aber das machte ihren Bruder nicht ungefährlicher, ganz im Gegenteil. Sie beschloss ihm die Lügen durchgehen zu lassen.
„Du hast keinen Kontakt mehr zu ihm?", fragte Selene etwas mitleidig und zwang sich dazu einen Schritt auf ihn zuzumachen als würde sie ihn trösten wollen. Das würde ihn in seinen Aussagen bestärken. Er schüttelte den Kopf und setzte einen Gesichtsausdruck auf, den sie nur von einem kleinen Jungen erwarten würde. Er war sagenhaft schön, stellte Selene fest. Würde der Wahnsinn nicht durch seine Aura hindurch dringen, würde er jede Frau um den Finger wickeln können. Aber das hatte er nie gelernt. Er war in einer Anstalt groß geworden und war irgendwo mit dem Verstand stecken geblieben. Emotional und auch mit dem Interlekt.
„Okay. Komm mit mir rein, dann reden wir. Niemand wird dir mehr etwas antun", versprach sie vertrauensvoll und streckte ihm die Hand entgegen. Sie brauchte Ethan hier draußen, irgendjemanden der ihr mit dieser Situation half, am besten jemand mit einer Gott verdammten Waffe!
„Du lügst. Ich mag Leute nicht die Lügen. Wobei hast du gelogen?" Selene erstarrte und fragte sich, wie sehr sie ihn unterschätzt hatte, erinnerte sich dann aber an seine Aussage vom Anfang. Gus erkannte Lügen, deshalb hatte der diesem James vertraut. Das könnte die Wahrheit gewesen sein, vielleicht war das die Art, wie die Gabe durch ihn wirkte. Es war fast schon sarkastisch, das Gus selbst sich in Lügen verlor und das auch noch ziemlich schlecht.
„Ich weiß nicht, ob dir niemand mehr etwas antun wird. Ich werde dir etwas antun, wenn du versuchst mir etwas anzutun", sagte sie und er legte den Kopf schräg, wieder wie ein kleiner Junge. Das schien nicht gespielt oder er spielte es einfach besser.
„Das ist okay, denk ich", murmelte er, erhob sich und machte einige Schritte auf Selene zu. Diese behielt ihr Lächeln bei und versuchte nicht in Panik zu geraten als er direkt vor ihr stand. Gus war ein großgewachsener, sehr schlanker junger Mann aber sie machte sich nichts vor: Er war stärker als sie, sofern er ernsthaft versuchen würde sie zu überwältigen.
„Du hast Angst vor mir, oder?", fragte er Selene und ihr Lächeln viel in sich zusammen.
„Granma hatte auch Angst vor mir."
„Du kanntest Granma?", fragte Selene und in diesem Moment, aktivierte sich Selenes Gabe und sie sah, das sie den Mörder ihrer Großmutter gegenüberstand.

Beta: geany 

Bildungsauftrag: GEHT WÄHLEN!!!!!!!!

persönlicher Zusatz: Möglichst aber niemanden der für Artikel 13 gestimmt hat ODER die AFD. Danke

persönliche Anmerkung zum Zusatz: Wählt wen ihr für richtig haltet aber geht Wählen ODER macht euren Stimmzettel ungültig, sonst wählt ihr trotzdem...(so funktionieren nämlich statistische Hochrechnungen, auch wenn ihr das nicht hören wollt -.-)

Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt