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Kapitel 3
„Okay, dann nicht. Wie läuft der Wagen?" Henry war so freundlich gewesen, den alten Wagen ihrer Großmutter wieder in Schuss zu bringen, als er Selene fast unterm Hintern zusammengebrochen wäre.
„Gut. Schnurrt wie ein Kätzchen. Ist der kleine Karl wieder aufgetaucht?", fragte Selene stattdessen, die dem Smalltalk überdrüssig geworden war. Henry setzte sich auf einen Küchenstuhl. Selene stellte ihm ebenso ungefragt eine leere Tasse vor die Nase und machte sich wieder daran, den Sud zu Ende zu brauen, den sie so sehr hasste und doch liebte.
Das war dieses stumme Einverständnis zwischen Ihnen, Henry brachte Lebensmittel und blieb noch zu einer Tasse Tee, bei der er immer das Gesicht verzog. Beim ersten Mal hatte er gefragt, was das sei, wobei sie nur erwiderte, dass es gut für ihn wäre und er sich nicht so haben sollte. So wie ihre Großmutter es immer zu sagen pflegte. Mittlerweile trank Henry ihn anstandslos. Seither hatte er keine Magenprobleme mehr und sie wussten beide, woran das lag.
„Nein, die alte Hollow ist ganz außer sich, schwört, dass er niemals weggelaufen wäre, aber wir haben die ganze Gegend durchkämmt. Ich glaube, dass er sich im Wald verlaufen hat, doch Michael meinte, dass er sich das nicht vorstellen kann."
Bei der Erwähnung von Deputy Michael Hirsch, zuckte Selene zusammen. Sie war mit ihm zur Highschool gegangen. Er war die Sportskanone, sie der Außenseiter und irgendwann war es kompliziert zwischen ihnen geworden. Die Kurzfassung: er hatte behauptet ihr Freund zu sein, sie hatte sich gewagt ihm zu glauben und war enttäuscht worden. Danach hat er ihr das letzte Jahr zur Hölle gemacht und sie hatte sich gerächt, indem sie ihm ein Kraut unterjubelt hatte, das ihn so krank gemacht hatte, dass er in der letzten Spiel-Saison nicht mehr mitspielen konnte und so die Chance auf ein Stipendium verloren hatte.
Sie hatte kein schlechtes Gewissen deswegen, Michael hatte bei der Polizei angefangen und schien ein nicht mehr ganz so großes Arschloch zu sein wie damals. Dennoch betrachtete er sie immer noch mit einem wütenden Blick, wenn sie sich begegneten. Sie lächelte dann immer. Wenn man davon überzeugt war, dass jemand eine Hexe war, sollte man nicht so dumm sein, sich mit diesem jemand anzulegen. Das hatte er auf die harte Tour lernen müssen.
„So ungern ich Michael auch recht gebe, aber ich glaube auch nicht, dass er sich verlaufen hat. Er ist hier aufgewachsen, kennt jeden Baum, jede Erhöhung, jeden Bach im Wald. Es ist unwahrscheinlich, dass er nicht weiß, wo er sich befindet. Und selbst wenn er die Orientierung verloren hat, wäre er dazu in der Lage gewesen nach Hause zu finden", sagte sie, hob den Deckel des Suds und schöpfte mit der Kelle etwas von dem Gebräu in eine alte Tonkanne, bevor sie sich und Henry einschenkte.
„Er ist erst dreizehn", gab Sheriff Henry zu bedenken. Selene zuckte mit den Schultern.
„Und ich rechne ihm höhere Überlebenschancen an, als Ihnen", meinte sie schmunzelnd und der alte Sheriff nickte nur verstehend. Er war nicht in einer Kleinstadt groß geworden und konnte sich nicht vorstellen, wie die Kinder hier mit der Natur lebten.
„Was sagen die anderen Debutys?", fragte sie weiter, schob den Topf von der Platte und setzte sich dann mit ihrem Tee Henry gegenüber.
„Kleinstädtischer Blödsinn, das sagen sie." Selene wusste, was er ihr damit sagen wollte und wieder zuckten ihre Mundwinkel.
„Tatsächlich? Haben einige bereits einen Durchsuchungsbeschluss beantragt, um mein Haus zu durchsuchen? Das wird nicht nötig sein, wenn sich die Stadtbewohner davon überzeugen wollen, dass ich keine kleinen Jungen fresse, können sie das jederzeit tun."
Henry grinste ebenfalls breit. „Ich werde diesem Blödsinn nicht auch noch Nährboden liefern."
Und damit war das Thema für ihn abgeschlossen, Henry trank seinen Tee, verabschiedete sich, lud sie noch einmal ein - was sie wieder verneinte - und fuhr mit seinem Polizeijeep davon.
Selene ging ihren täglichen Arbeiten nach, wusch die Wäsche, strich die von Henry erhaltenden Lebensmittel von ihre Einkaufsliste für nächste Woche und bestellte sich einige Dinge im Internet und ließ sie sich zur städtischen Poststation zusenden. Kurz dachte sie auch darüber nach, noch einmal zu versuchen, den Jungen Karl zu finden, doch das einzige Bild, was sie von ihm hatte, war zwei Jahre alt und von der örtlichen Zeitung, die über ein Theater in der Grundschule berichtete. Damit konnte sie nichts anfangen, Kinder veränderten sich zu stark, als dass sie etwas aktuelles hätte sehen könnte. Leider.
Als sie mit allem fertig war, löste sie den mobilen Internetstick aus ihrem Computer, die einzige Möglichkeit hier in der Einöde überhaupt welches zu empfangen, und verstaute den teuren Anschluss in einer kleinen Box. Der Stick verband sich direkt mit einem Satelliten und bot unglaublich gutes Internet, das sie im Monat mehrere hundert Dollar kostete. Sie ließ ihn aber immer nur in Sichtweite, wenn sie ihn tatsächlich brauchte, denn jeder der zufällig wissen könnte, um was es sich bei dem recht klobigen Gerät handelte, würde sich zurecht wundern, was eine Einsiedlerin mit einem ausgewiesenen Hackerutensil machte. Denn durch die direkte Verbindung zum Satelliten erlaubte es ihr der Stick eine absolute Anonymität, die sie brauchte um mit dem FBI zu kommunizieren. Das, ein bisschen Hellsichtigkeit und verdammt viel Können.
Das Knowhow zu dem ganzen technischen Kram hatte sie sich selbst beigebracht, aus Langeweile und einfach nur, weil es ihr so leicht fiel, dies alles in sich aufzunehmen. Während ihre Großmutter der Technik skeptisch gegenüberstand, hatte Selene sich quasi darin verloren.
Sie gähnte herzhaft, als der Abend anbrach und beschloss heute besonders zeitig ins Bett zu gehen und schlief auch schnell ein, nachdem sie eine weitere Tasse dieses Tees getrunken hatte. Sie schlief tief, aber nicht lange.

Es war ein Gefühl, das sie aufschrecken ließ, ein Instinkt und eine ganz ganz böse Vorahnung. Wie die, die sie gehabt hatte, als ihre Großmutter ermordet worden war. Sie erhob sich aus dem Bett, ging die kleine Treppe herunter, die in die Küche führte und erstarrte, als sie im milden Schein des Mondlichtes den regelrecht zerfetzten Körper eines Kindes entdeckte.
Karl.

Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt