Leid und Trost

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Kapitel 36
Alles um Selene herum verlief wie in Zeitlupe, nachdem Ethan ihr erklärt hatte, dass es keine Hoffnung mehr für Henry und seine Familie gab. Sie waren tot. Er, seine Frau und seine beide Töchter – sie alle waren tot und das nach Lindseys kurzer Beobachtung schon seit mehreren Tagen. Getötet wahrscheinlich nur kurz nachdem man ihr verschwinden bemerkt hatte. Es war surreal. Wieder blickte Selene zu der blühenden Baumkrone und versuchte das Grauen, dass sich zwischen dieser Schönheit verbergen sollte, zu begreifen. Henry und seine Familie waren nicht die einzigen die dort hingen und das Entsetzen, dass sowohl die taffe Lindsey als auch den Erfahrenden Derek ins Gesicht geschrieben standen, war zum greifen nahe.
„Ich habe sowas noch nie gesehen", murmelte Lindsey vor sich hin, während Ethan in der Nähe der beiden Frauen blieb und aufgeregt in sein Funktelefon sprach. Selene legte die Arme um sich und versuchte den Schauer zu unterdrücken, der ihren Körper herabfloss wie altes Motoröl.Tot. Alle. Aufgeknüpft in einer Baumkrone. Sie konnte sich kaum vorstellen was das bedeutete. Sie hatte irgendwie immer gewusst, dass sie es mit einem furchtbaren Menschen zu tun hatten, aber die schiere Anzahl der Opfer machte diese Verbrechen geradezu monströs. Geradezu...unmöglich.
„Sie können nicht von hier sein", entfuhr es Selene und war froh darüber, das der Schmerz in ihrer Brust erstmal keinen Widerhall in ihrem Körper fand. Ihr Verstand ratterte vor sich hin und begann zu analysieren.
„Es gab keine weiteren Vermisstenanzeigen." Lindsey schien dankbar für ihren Einwurf, das Entsetzen war aus ihrem Gesichtsausdruck verschwunden und Selene beneidete sie darum, ein solchen Wissen so ohne weiteres wegstecken zu können. Während Selene selbst wie Espenlaub zitterte, als würde sie jeden Moment in einen Schock fallen. Die Agentin trat an Selenes Seite, legte ihr eine Hand auf den Rücken und begann damit in einer ständigen Auf- und Abbewegung über ihr Rückrat zu streichen. Kurz war Selene schockiert über diese Geste, wehrte sich aber nicht gegen diesen Trost – denn er half. Ihr Körper fand etwas auf das er sich konzentrieren konnte, während ihr Gehirn versuchte dieses Rätsel zu lösen. Lindsey half auch dabei.
„Der Wald scheint riesig und die Leichen sind teilweise alt. Es könnten Wanderer sein. Leute, die hier nicht heimisch waren, die man nicht vermisste. Davon gibt es mehr als man glauben mag."
Selene wollte weiter darüber reden, die Rationalität dahinter linderte den Schmerz und beschäftigte ihren Verstand. Doch dann lag ihre Wange auch schon fest an Ethans Brust geschmiegt und seine große, raue Hand umfasste ihren Nacken.
„Es tut mir leid, Süße", flüsterte er ihr leise zu und Selene spürte, wie ihre Selbstbeherrschung bröckelte. Sie musste hier weg und das schnell, bevor sie ein weiteres Mal von ihrer Trauer mitgerissen wurde. Aber anders als beim letzten Mal fühlte sie sich nicht... allein. Lindsays mitfühlender Blick streifte ihren und sie nahm Ethan das Funktelefon aus der Hand.
„Ich kümmere mich um alles, schaff sie lieber zurück in ins Hotel, wo sie das verarbeiten kann. Die Verstärkung ist auf den Weg?", fragte Lindsey und versuchte ihre Professionalität wiederzuerlangen. Ethan hielt Selene immer noch an sich gedrückt, als befürchtete er, sie würde gleich zerspringen. Aber seine Stimme bot einen scharfen Kontrast zu der Zärtlichkeit, mit der er Selene hielt.
„Ja. Zwei Teams aus den umliegenden Gemeinden. Ich will nicht das die Presse davon Wind bekommt!"
„Das wird schwer, ist ein Statement nicht klüger?", fragte Derek Stirnrunzelnd. Selene spürte wie Ethan leicht den Kopf schüttelte. „Nein, damit kann diese Gemeinde nicht umgehen und ich will Antworten haben, bevor ich irgendwelche Informationen hinausposaune, die eventuell wichtig sein könnten. Wenn sich ein Reporter hier herverirrt erinnert ihn daran, dass wir das Recht haben eine Zurückhaltung von ihm einzufordern, wenn es den Fall behindern könnte und dass wir befugt sind alles einzuziehen und jeden für sechsunddreißig Stunden festzuhalten, der es wagt dagegen zu verstoßen."
„Nachrichtensperre. Verstanden!", wiederholte Lindsey die Anordnung und dann löste Ethan sich etwas von Selene und brachte sie weg von den Ruinen.

Als sie an bei den Autos ankamen, waren die Teams von der Spurensicherung und ein dutzend weiterer Beamte gerade dabei ihre Sachen aus den Kofferräumen zu holen und sich auf den Weg zu machen. Es dämmerte bereits und langsam verschwand das Tageslicht, sodass Selene und Ethan von einer Taschenlampe im Halbdunkeln angeleuchtet wurden und es Ethan für nötig befand, sich zu erkennen zu geben.
„Agent Ethan McAllan, FBI. Sie wissen, wo es langgeht?" fragte er hilfsbereit. Zwei Beamte kamen herbeigeeilt. Beide hatten einen Sherriffstern an der Brust hängen und Selene musste den Blick abwenden, als sie wieder an Henry dachte. Es war einfach nur furchtbar.
„Sehr erfreut. Ja, wissen wir. Sie sind der Teamleiter?" fragte einer der Männer und Ethan nickte nur und trotz der fragwürdigen Blicke die, die Männer ihm und Selene zuwarfen, nahm Ethan nicht seine Hand von ihrer Hüfte, die er bereits die ganze Zeit fest umfasst hielt.
„Ja. Ich habe die Leichen entdeckt, meine Stellvertreterin wartet schon auf Sie, ich ziehe mich für heute zurück." Niemand fragte wieso, aber die Beamten nickten verständnisvoll.
„Soll schlimm sein, das steckt wohl niemand so leicht weg", sagte der eine und deutete mit einer Kopfbewegung auf Selene. Die Tatsache, dass sie eine Frau war und Ethan sie so behütet berührte schien ihm zu verraten, wer hier etwas nicht ertrug.
„Selene James. Sie ist Information meines Teams und kannte eines der Opfer persönlich", erklärte er, weil alles andere für unnötige Neugierde gesorgt hätte. Denn obwohl Selene eine Jacke trug auf dem FBI stand, würde sie nie wie eine Agentin wirken. Sie war zu jung.
„Mein Beileid Ma'am, kommen Sie beide gut nach Hause, Sir", sagten sie freundlicherweise und dann machten sie sich wieder ans Werk, während Ethan sie zum Wagen brachte und sich dieses unendliche Schweigen zwischen ihnen ausbreitete, das bereits den ganzen Weg hier her geherrscht hatte. Ethan lenkte den Wagen über den holprigen Waldweg, bis sie an Selenes Haus vorbeikamen und dann endlich festen Asphalt unter den Rädern hatten.
Selene starrte ins Leere und versuchte die ganze Zeit den Gedanken an Henry zu verdrängen und dennoch huschten ihr verräterischen Tränen über die Wangen. Eine Hand legte sich ein weiteres Mal in ihren Nacken und massierte mit den Daumen ihren Halswirbel.
„Verfall mit nicht in einen Schockzustand, okay?", sagte Ethan und Selene bemühte sich, etwas darauf zu antworten, aber ihr Hals hatte sich zugeschnürt. Dennoch presste sie die Worte mühevoll hervor.
„Ich hab es nicht einmal gesehen", erklärte sie leise. Wenn jemand schockiert sein sollte, dann Ethan, aber der war die Ruhe in Person. Zumindest äußerlich.
„Ich lasse so etwas nicht an mich herankommen. Bei dir ist es persönlich."
„Es ist die ganze Zeit persönlich", widersprach sie weiter und erwischte sich dabei, wie sich fester an seinen Griff schmiegte. Wie zuvor schon bei Lindsey half die Berührung und sie wünschte sich einfach, dass er sie nie wieder losließ.
„Baby, du musst dich für keine deiner Reaktionen schämen. Das hier ist ein absoluter Ausnahmezustand." Sie überging das „Baby" wie auch das „Süße" und wahr insgeheim froh darüber, dass sie nicht nur das ständige „Sie" und „Du" Problem hinter sich gelassen hatten, sondern jetzt schon bei Kosenamen waren. Ganz so, als würden Sie sich schon ewig kennen. Es war leicht sich so zu fühlen. Ethan gab ihr den Halt, den sie seit dem Tod ihrer Großmutter so sehr vermisst hatte und sie fühlte sich geschmeichelt, dass er sich für sie interessierte. So sehr, dass sie die hässliche kleine Stimme in ihren Hinterkopf ignorierte, die ihr sagte, dass er nicht freiwillig so fühlte. Das es eine Art Manipulation der Natur war um Selenes Fluch weitervererben zu können. Er war schlicht und ergreifend der beste genetische Option und dieser Zwang würde verschwinden, sobald er seinem Zweck erfüllt hatte – sein Samen Wurzeln geschlagen hatte. Und dann? Was würde passieren, wenn dieser Zwang vorbei war? Würde er sie verlassen wie ihre Großmutter verlassen worden war.
Hannah hatte sie bei dieser Frage immer angelächelt und gemeint, dass sie wusste, dass der Vater ihres Sohnes sie verlassen würde sobald er der Zwang verschwand, aber so war es nicht immer. Sie selbst stammte aus einer glücklichen Ehe. Ihre Eltern haben sich bis zum letzten Atemzug geliebt, weil sie nicht nur genetisch kompatibel waren, sondern auch persönlich. Sie müsse Vertrauen haben und Selene hatten dieses Vertrauen in Ethan. Es war mehr, das spürte sie einfach. Was damit allerdings auch bedeutete, dass sie ihm irgendwann reinen Wein einschenken musste, was ihre Fähigkeiten betraf.
Irgendwann.
Sie lächelte ihn an und ließ es zu, dass ein Schwung Tränen ihre Wangen benetzte und dennoch lächelte sie und legte in dieses Lächeln alles an Dankbarkeit, die sie aufbringen konnte. Ethans dunkler Blick streifte sie kurz, sein Kiefer spannte sich an und er presste seine Lippen aufeinander.
„Bitte nicht. Ich kann es nicht ertragen, wenn du weinst!", knurrte er fast schon wütend, aber sie lächelte nur breiter und schluchzte dann sogar kurz auf. Sie wollte ihn nicht quälen und schon gar nicht in eine unangenehme Situation bringen aber sie konnte es nicht aufhalten. Aber von einem Zusammenbruch konnte nicht die Rede sein, dafür gefiel sein angespanntes Profil ihr zu gut und sie streckte ihre Finger aus und berührte seine Wange, auf der sich bereits ein dunkler Bartschatten bildete.
Selenes Lungen sogen ruckartig immer wieder Luft in sich, als sie versuchte die Trauer zurückzudrängen. In diesen kurzen Moment der Schwäche, zerfressen von der Trauer und des Verlustes schaffte es Ethan etwas in ihr zu berühren. Sie hatte nie vorgehabt sich tatsächlich zu verlieben aber sie ahnte bereits, dass sie in genau diesen Moment darauf zu lief: Liebe. Ihr bereits malträtiertes Herz sollte sich vor Angst zusammen ziehen aber das Wissen darum, dass es ihm genauso ging gab ihr die Sicherheit, genau das auszusprechen was ihr auf der Seele lag. 

„Du siehst gut aus, so unrasiert..." entfuhr es ihr und das brachte ihn tatsächlich zum Lächeln, nachdem er sie kurz ungläubisch angesehen hatte. Sie hatte ihn noch nie ein Kompliment gemacht und für ihn schien das ebenso überraschend zu kommen wie für sie. Aber er freute sich über dieses kleine Zeichen ihrer Zuneigung. Seine Hand in ihrem Nacken verschwand und er umfasste ihre Finger, bevor er ihr einen sanften Kuss auf die Fingerspitzen drückte. Sofort wurde Selene rot und verfiel träumerisch seinem Anblick, während er durch die Nacht fuhr und ihre Hand nicht mehr losließ.

Beta: Geany

Beta: Geany

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Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt