Ein guter Sherrif

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Kapitel 2
Selene hob den Kopf und lauschte dem immer lauter werdenden Klang von Reifen auf der unbefestigten Straße zu ihrem Haus, der von dem Wald um sie herum durch ihre Terrassentür hineingetragen wurde. Sie mochte keine Besuche, sie mochte keine anderen Menschen und wenn sie so darüber nachdachte, war sie genau das, was die Leute in der nahegelegenen Kleinstadt von ihr behaupteten. Nicht der Teil mit der kinderfressenden, alten Hexe, aber der, in dem sie eine Einsiedlerin war. Und immer wenn sie dann doch mal in die Stadt ging, um einzukaufen oder andere Dinge zu erledigen, behandelte sie jeden Menschen um sich herum unhöflich und distanziert.
Dabei tat sie doch nur das, was diese Leute von ihr erwartet hatten. Ihre Großmutter war die unheimliche Alte gewesen und Selene hatte es in ihrer Kindheit schwer gehabt Anschluss zu finden. Jeder wollte nur die Enkelin der alten Hexe in ihr sehen und letztendlich war sie dazu geworden. Das gruselige kleine Mädchen, das nie mit anderen spielen durfte und immer eine Außenseiterin gewesen war. Als Selene älter wurde, hatte sie mit spitzem Sarkasmus und Schwarzmalerei reagiert, sobald sich doch mal jemand in ihre Richtung verirrt hatte, um der Ablehnung zuvor zu kommen.
Sie brauchte diese Leute nicht, die ein kleines Waisenkind dafür verantwortlich machten, und es mit dem Besen auf die andere Straßenseite jagten, wenn eines ihrer Kinder gestolpert war. Nicht viele waren so schlimm gewesen, doch die anderen hatten auch nicht verhindert, dass diese Wenigen sie so behandelten. Also hasste sie alle gleich. Alle bis auf den Pfarrer der Gemeinde, der immer ein liebevolles Lächeln für sie gehabt hatte und der Gemeinde mehr als einmal ins Gewissen geredet hatte, dass es nicht in Ordnung war, ein Kind so zu behandeln. Es hatte es besser gemacht, aber nicht aufgehalten. Ja, den alten Pfarrer hasste sie nicht. Ihn und den Mann, der soeben auf dem Weg zu ihr war.
Selene legte den Holzlöffel beiseite und den schweren Deckel auf den riesigen, Topf der gerade auf dem Herd stand und einen Kräutersud beinhaltete, den sie immer am Abend trank. Als Kind hatte sie diese bittere Vitaminbombe gehasst, die ihre Großmutter gekocht und sie zu trinken gezwungen hatte, damit sie nicht krank wurde. Selene hasste ihn heute noch, aber sie trank ihn. Aus Gewohnheit, als Erinnerung und aus Vernunft.
Der Motor verstummte vor ihrem Haus. Selene verließ die offene und helle Küche die an die Terrasse anschloss, durchquerte das weiträumige Wohnzimmer und öffnete die Tür, noch bevor der Mann aus dem schweren Jeep aussteigen konnte und sein typisch sympathisches Lächeln aufsetzte, das in mindestens fünf Jahre jünger wirken ließ. Sheriff Henry Lundwill, war ein beleibter, älterer Mann, der erst vor circa zehn Jahren mit Frau und Kind in die Gemeinde gezogen war, um die freigewordene Stelle bei der Polizei zu besetzen.
„Guten Morgen, Selene", begrüßte er sie glücklich, ging um den Geländewagen herum und zog eine Kiste Wasser und einen schweren Korb von der Transportfläche.
„Das ist nicht nötig, haben Sie das ihrer Frau nicht gesagt?", fragte Selene missmutig und ließ den Mann in ihr Haus, der ihr Wasser und einige Lebensmittel brachte. Sie brauchte keine Almosen, der Grund, dass sie so selten in die Stadt ging, war, dass sie die Menschen nicht mochte und nicht weil sie kein Geld hatte, um sich Sachen zu kaufen. Sie hatte genug Geld. Ihre Großmutter hatte ihr ein Vermögen hinterlassen und sie selbst verdiente auch überdurchschnittlich gut. Doch das wusste niemand. Und aus der Sicht des Sheriffs musste es anders wirken, weil sie hier in der Einöde lebte.
Er lächelte nur breit und an den Seiten seiner Augen entstanden tiefe Krähenfüße, die wunderbar zu den grauen Schläfen des sonst militärisch kurzen Haares passten.
„Maria sagt, du sollst es als Bezahlung nehmen." Selene prustete nur abfällig, doch der Sheriff hatte sich von ihrer ablehnenden Art nie aufhalten lassen.
„Und ich habe ihr schon hundert mal gesagt, dass ich keine Bezahlung möchte." Sie verkniff es sich, an ihren Satz anzuhängen, dass sie niemals ein Kind würde leiden lassen, wenn sie etwas dagegen unternehmen konnte. Sie wollte nicht für mitfühlsam gehalten werden, nicht für schwach. Und es war wirklich nichts dabei die Salbe herzustellen, die dafür sorgte dass Sheriff Henrys jüngste Tochter nicht wie eine Aussätzige behandelt wurde. Das Mädchen litt an eine schwere Hautirritation und würde sich alles blutig kratzen, wenn da nicht ihre Salbe wäre.
Zu heilen war ebenfalls etwas, dass jedes Orakel von Anfang an beigebracht bekam. Es war ihre heilige Pflicht, den Menschen, die sie traditionell mit Lebensmitteln und allem was sie brauchte, mit diesem Wissen zu helfen. Während reiche Menschen wiederum dem Orakel Geld brachten, um ihre Weisheit zu erhalten. Das war ein uralter Gesellschaftsvertrag, den heute niemanden mehr kümmerte. Und den Henry erfüllte, ohne etwas davon zu wissen.
Aber Selene fühlte sich schlecht dabei, etwas anzunehmen, obwohl sie nicht bedürftig war.
„Ich werde es nicht wagen, meiner Frau zu widersprechen, wenn es darum geht", sagte er, stellte den Korb mit den Lebensmitteln auf ihren Küchentisch ab und die Wasserkiste ungefragt in einen kleinen Kühlraum, direkt neben dem Eingang.
„Ist es wieder schlimmer geworden?", fragte Selene ohne weiter darauf einzugehen. Henry schüttelte den Kopf.
„Nein. Das Jucken hat nicht wieder angefangen, wir cremen nur noch vorbeugend, so wie du gesagt hast. Ich bin nicht hier wegen der Salbe, sondern um dich zum Abendessen einzuladen."
Automatisch schüttelte Selene den Kopf und Henry nickte nur stumm. Das war ebenfalls ein Punkt in dem sie sich uneins waren. Maria war eine gute Frau, doch sie war irgendwie dem Gedanken erlegen, dass Selene so etwas wie eine Ersatzfamilie brauchte, dass sie hier draußen einsam war, doch das stimmte nicht.

 Maria war eine gute Frau, doch sie war irgendwie dem Gedanken erlegen, dass Selene so etwas wie eine Ersatzfamilie brauchte, dass sie hier draußen einsam war, doch das stimmte nicht

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Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt