Grenzen

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Kapitel 19

Selene konzentrierte sich auf das beruhigende Klavierstück aus ihrem iPod, während sie gedankenlos die Wolken betrachtete, die wie Zuckerwatte an ihrem Fenster vorbeiglitten. Es war wieder ruhig im Flieger. Lindsey hatte sich in ihre selbstauferlegte Verbannung zurückgezogen, während Derek eine Zeitung lass und Bobby auf seinem Laptop einhämmerte als gebe es kein Morgen. Sie hatte fest damit gerechnet, dass der Rest von Ethans Team sie mit Fragen durchlöchern würde, sobald die „schlechten Nachrichten" überbracht worden sind, doch es kam nichts. Selene war darüber enttäuscht und gleichzeitig erleichtert. Sie hätte nicht gewusst, wie sie in Anbetracht der jüngsten Entwicklung auf Smalltalk reagiert hätte, wäre aber froh über eine Ablenkung gewesen. Aber kaum zwanzig Minuten, nachdem sie die Hiobsbotschaft erhalten hatte, lag plötzlich Ethans Hand auf ihrer und nahm ihre Aufmerksamkeit gefangen.
Seit dem Kuss hatte sie eine merkwürdige Stimmung bei ihm registriert, die irgendwo zwischen Selbsthass und Verlangen hin und her schwang und dank ihrer eigenen emotionalen Labilität war das nichts, was sie momentan gebrauchen konnte.
Sie zog ihre Hand weg und bellte ihm ein hartes und definitiv ernst gemeintes:"Lassen Sie mich in Ruhe!" entgegen. Das war ein altes Muster. Wegstoßen, abstoßen, verkriechen und niemanden an sich ran lassen. Eine Eigenart mit der sie nicht geboren worden war, sondern die ihr durch unendlich viele Enttäuschungen, Ablehnung und Verleugnungen antrainiert worden war. Als kleines Mädchen war sie strahlend durch die Wälder gehüpft und hatte Frösche gejagt. War stets freundlich und zuversichtlich in einen neuen Tag gestartet. Dann war sie dreizehn geworden und die emotionalen Schläge hatten sich so sehr gehäuft, dass kein Lächeln der Welt dem standgehalten hätte.
Selene mochte sich selbst nicht, wenn sie in dieses Muster zurückfiel. Es fühlte sich falsch an. Aber ab und an war es wie ein Reflex. Schilde hochziehen und Zuschnappen sobald sich ihr jemand näherte. Genau wie jetzt.
Aber das bedeutete nicht, dass Ethan auch nur ansatzweise auf sie hörte. Er griff erneut nach ihrer Hand und hielt sie mit seiner großen Pranke so fest umschlossen, dass sich die Hitze seines Körpers komplett in ihr ausbreitete. Mit der anderen zog er ihr die Kopfhörer aus den Ohren und lehnte sich dicht zu ihr herüber.
Für einen winzigen Moment glaubte sie, er würde sie wieder küssen und für einen noch kleinere wünschte sie es sich sogar, doch sein Gesichtsausdruck wollte sie definitiv erwürgen, nicht verführen.
„Erzähl mir von dir und dem Sheriff!", forderte er und sah sie mit seinen unendlich tiefen und gebieterischen Augen an. Von Privatsphäre hatte er definitiv noch nie etwas gehört, aber für einen FBI Agent schien es wohl normal zu sein, seine Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken. Was nicht hieß, dass sie ihm alles brühwarm auf das Butterbrot schmierte. Selene schwieg eisern und seine Augen nahmen einen noch düsteren Ausdruck an.
Was genau war eigentlich sein Problem?
„Du hast gesagt, er wäre eine der wenigen Ausnahmen, was deine Vorverurteilung anging. Du sagtest, er wäre ein guter Mann." Hatte sie das? Anscheinend, aber wenn er das wusste, warum wollte er denn dann mehr wissen?
„Ja." Sagte sie in der Hoffnung er würde sie jetzt endlich wieder ihrem Selbsthass und ihrer Trauer überlassen. Doch das tat er nicht.
„Hattet ihr eine Affäre?", presste er zwischen den Zähnen hervor und wäre Selene nicht bereits vollkommen an der Grenze ihrer Gefühlswelt, wäre sie jetzt vollkommen geschockt gewesen.
„Was? Nein. Wie kommen Sie denn darauf?" Selene war ehrlich entsetzt, wobei sie nicht wusste was sie mehr schockierte. Seine Unterstellung oder die Tatsache, dass er sie so etwas überhaupt fragte. Er erklärte seine Gedankengänge nicht, was wiederum Selene in die Position brachte Antworten verlangen zu müssen.
„Er war verheiratet und hatte zwei Töchter!", gab sie zu bedenken und kassierte von Agent Ethan McAllan nur ein abtuendes Schnaufen.
„Als hätte das jemals einen Mann davon abgehalten sich einer ausgestoßenen, jungen Frau zu nähern." Okay, langsam ging ihr das zu weit.
„So war das nicht, er war nur..."
„Nett? Zuvorkommend? Hat er dir mit dem Grundstück geholfen und mit den Menschen in diesem Provinznest? Ich bin nicht naive Selene und ich halte dich auch nicht dafür. Also frage ich dich noch einmal: War der Sheriff in dich verknallt?" Und jetzt war es an Selene wütend zu werden. Alleine die Vorstellung Henry wäre solch ein Mann gewesen, war absurd. Er würde seine Frau nie betrügen, schon gar nicht mit jemandem wie ihr. Er war einfach nur nett gewesen. Ein Mann, der gerne half, wo er eben konnte.
„Hör mal: Seine jüngste Tochter leidet unter einer Hautkrankheit, ich habe ihr damit geholfen, dafür hat er mir Lebensmittel gebracht und mal meinen Wagen in Stand gesetzt. Er wollte einfach nur helfen. Ich kann verstehen, dass ein Mann wie du, das kaum glauben kann, aber ein Mann kann gegenüber einer Frau tatsächlich einfach nur nett sein, ohne dabei Hintergedanken zu haben. Wenn er etwas für mich empfindet, dann sind das eher väterliche Gefühle. Ich könnte seine Tochter sein! Verdammt nochmal." Dass sie ihn gegen ihren Willen wieder duzte, fiel ihr nicht auf.
Ethans Schnauben wurde lauter, aber nicht so laut, dass die Anderen es hätten hören können. Im Allgemeinen betete Selene darum, dass dieses Gespräch niemand mit anhörte.
„Dass du auf ältere Männer stehst weiß ich bereits und du hast Recht: Ich glaube nicht daran, dass ein Mann in einer Macht Position sich aus reiner Nächstenliebe einer jungen, schönen Frau nähert." Selene klappte die Kinnlade nach unten. Dass er es wagte, Henry trotz ihrer Erklärungen in den Dreck zu ziehen.
„Das zwischen uns hat nichts mit Henry zu tun und zwölf Jahre sind ein riesiger Unterschied zu den fünfundzwanzig die Henry und mich trennen, das hat..."
„Jetzt ist er also schon Henry, ja?"
„Würdest du einmal nicht wie ein eifersüchtiger, bissiger Hund reagieren? Er war nett zu mir, was nicht gerade selbstverständlich war. Ich habe ihn gemocht. Ihn und seine Familie. Maria, seine Frau ist toll. Als meine Großmutter starb hatte ich niemanden mehr, aber sie waren immer da und...." Sie hatte sich in Rage geredet und dann konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten und ihre Stimme brach in sich zusammen, als ein Schluchzen ihren Körper erschütterte.
Ethans Ausdruck wurde auf einen Schlag hilflos und er drehte sich so weit in seinen Sitz um, dass sein breiter Rücken sie vor eventuellen Blicken von anderen schützte, während sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Eine große Hand legte sich an ihr Gesicht und sie gab dem Bedürfnis nach und schmiegte ihr Gesicht fest an Ethans Brust. Er hielt ihren zarten Körper fest umschlungen und wartete bis die Trauer sich wieder in Wut verwandelte und sie ihm gegen den Bauch boxte.
Zu ihrem grenzenlosen Entsetzen erzeugte es einen Schauer in ihrem Körper, als sie die pure Kraft und die Muskeln unter ihren Fingern so deutlich zu spüren bekam. Sein Körper war hart wie Stein und das fand sie ungemein sexy.
„Sie sind ein Idiot, Agent McAllan!", schniefte sie, bevor sie sich von ihm losmachte, sich wieder ihren iPod schnappte und sich vornahm ihn für den Rest des Fluges nicht mehr zu berühren oder ihn wieder so vertraut anzureden. Sie mussten endlich lernen diese Grenze einzuhalten.   

Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt