Abschiede und Neuanfänge

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Kapitel 64


Selene bemerkte wie Ethan sich versteifte, dabei war doch sie diejenige, die sich fürchten sollte. Doch erstaunlicherweise empfand sie schlicht und ergreifend gar nichts für die Frau, die gerade zur Tür hereinkam und sich ein Lächeln abrang. Sie sah Selene an, blieb mit dem Blick an dem großen Verband an ihrem Hals hängen und es trat so etwas wie Wehmut in ihre Augen. Selene selbst war kurz verwirrt. Sie hatte immer geglaubt, dass es ihr wehtun würde ihrer Mutter zu begegnen und dabei zu wissen, dass man sie abgeschoben hatte, weil man einfach unbequem geworden war. Das war auch der Grund gewesen, warum Selene nicht hatte mit ins Haus gehen wollen, aber nichts davon trat ein.
Sie hatte keinerlei Beziehung zu der Frau, die sie in die Welt gesetzt hatte. Ihre Mutter war Hannah James gewesen und mit dieser hatte sie eine glückliche und zufriedene Kindheit gehabt. Sie hatte nie irgendetwas vermisst und tat es auch jetzt nicht.
„Wenn du was brauchst, ich warte vor der Tür", hauchte Ethan ihr mit einen leichten Knurren in der Stimme entgegen, doch als er von ihrer Seite weichen wollte, griff Selene nach seinem Kragen und hielt ihn fest.
„Nicht nötig, das wird schnell gehen", erwiderte Selene und es war allein ihrer guten Erziehung zu verdanken, dass sie in den Moment einen kleinen Stich verspürte, als der Blick ihrer Mutter etwas Schmerzvolles annahm. Ja, es tat ihr weh und Selene wurde beigebracht, dass man andere Leute nicht mit Absicht verletzte.
„Ich wollte nicht stören", sagte ihre Mutter und straffte die Schultern bevor sie in den Raum kam und Selene ließ kurz ihren Blick über sie wandern. Sie sahen sich nicht wirklich ähnlich. Ihre Haare waren kurz und blond und ihr schlanker Körper steckte in einem biederen Business-Outfit. Selbst ihre Schuhe zeugten davon, wie wenig sie miteinander verband. Selene hatte nie Pumps besessen und würde auch nie welche tragen. Sie war der Jeans und T-Shirt Typ.
„Ich hatte keine Ahnung, dass ihr ein Paar seid", murmelte sie weiter und betrachtete Ethan plötzlich mit ganz anderen Augen. Selene zuckte mit den Schultern.
„Wüsste auch nicht warum dich das was angehen sollte", war Selenes störrische Antwort und Karina schluckte schwer.
„Ich weiß, dass du mich hassen musst, aber ich würde dir gerne erklären, warum ich dich an deine Großmutter gab und ich es für das Beste hielt, wenn wir keinen Kontakt haben", begann sie, aber Selene fuhr ihr über den Mund.
„Ich weiß es. Du warst überfordert mit meiner Gabe und konntest damit nicht umgehen, schon gar nicht, nachdem sich Dad noch vor meiner Geburt in Afghanistan hatte umbringen lassen. Du hast ihn verlassen und dann hast du uns abgegeben, um nicht daran erinnert zu werden. Den Kontakt hast du nicht gehalten, weil du angst um deine anderen Kinder hattest und wahrscheinlich auch, weil du mich irgendwie dennoch geliebt hast und es nicht ertragen hättest. Du hast die richtige Entscheidung getroffen und ich verstehe sie. Ich verstehe auch, dass du um Gus trauerst und auch warum du hier bist – ich bin dein Kind und werde es für dich auch immer sein. Aber all das ist mir egal. Deine Muttergefühle für mich, Gus und deine anderen Kinder sind mir egal, deine Trauer ist mir egal und auch die Sorgen die du dir machst. Ich kenne dich nicht und ich habe nicht vor daran etwas zu ändern. Ich glaube sogar, es ist besser, wenn wir keinen Kontakt zueinander haben. Ich wünsche dir eine schöne Heimreise, Karina", sagte sie und keines dieser Worte war schwer über die Lippen zu bringen. Sie log nicht, sie redete sich auch nichts ein.
Sie empfand tatsächlich gar nichts dabei sie zu sehen, das Schreckgespenst hatte seine unheimliche Atmosphäre verloren und hinterließ nichts außer das Wissen, dass sie absolut nicht verpasst hatte. Selbst die Tatsache, dass sie ihre Mutter nun mit derselben Logik fortschickte, mit der sie selbst als Kind abgegeben wurde, löste keinen Triumph in ihr aus, genauso wie der Tod ihres Bruders sie nicht berührte. Alles, was sie in diesen Moment empfand, war Glück noch am Leben zu sein und in den Armes des Mannes zu liegen, in den sie sich verliebt hatte.
Ihre Mutter bewies die Würde, einfach zu nicken und dennoch einen Augenblick an Ethans Blick hängenzubleiben.
„Passen Sie auf meine Tochter auf", bat sie und bewies damit mehr Mutterinstinkt als Selene ihr jemals zugetraut hatte, aber zu behaupten Karina empfand nichts für ihre Kinder, hätte ihr auch unrecht getan. Sie liebte sie. Alle. Und sie hatte gute Gründe Selene abzugeben und den Kontakt abzubrechen. Hätte sie es nicht getan, wären ihre jüngsten Kinder mit dem übel dieser Welt konfrontiert worden, genauso wie sie selbst. Selene legte sich sogar soweit aus dem Fenster zu behaupten, dass sie das Gleiche getan hätte. Es war das Beste, was sie tun konnte, obwohl es wahrscheinlich auch das schwerste war. Eines ihrer Kinder war tot und dem anderen war sie nun gleichgültig. Das musste ihr Schmerzen bereiten, aber das sind die Opfer, die sie dafür ertrug, dass diese Welten getrennt blieben.
Ethan antwortet darauf nichts und Karina blinzelte schnell eine Träne weg, bevor sie das Zimmer wieder verließ. Selene hing mit den Gedanken noch einen Augenblick an ihr aber da drückte ihre Ethan auch schon einen Kuss auf die Schläfen.
„Brauchst du irgendwas? Hunger? Durst?", fragte er fürsorglich und Selene war dankbar, dass er nichts weiter zum Thema Karina Lagagotti sagte. Sie wollte damit abschließen, ein für alle Mal und sie wollte ein neues Leben anfangen.
„Wie wäre es mit deinem Versprechen, dass das FBI diesen Fall nicht einfach zu den Akten legt? Es gibt so viele offene Fragen. Zum Beispiel, warum James Gus aufgesucht hat oder was er oder Gus getan hat, dass sie getrennte wegen gingen? Was zum Teufel hat meine Ahnenreihe mit den Morden zu tun und warum meldet sich James plötzlich bei dir? Hat er uns beobachtet? Uns alle? Er hat Gus gesagt, wo wir sind. Irgendwer hat die Polizeiakte von meiner Großmutter verschwinden lassen! Das können wir nicht ignorieren, Ethan! Wir haben einen Maulwurf hier, vielleicht sogar James selbst. Wir können doch nicht nur herumsitzen und-"„Niemand hat vor den Fall einfach beiseite zu legen, aber wir haben momentan keine aktiven Spuren, deswegen ist es nur noch eine Frage der Zeit bis das aktive Ermittlerteam abgezogen wird, Selene. Es warten andere Fälle auf uns, Fälle mit heißen Spuren und wir werden warten müssen bis die Forensik irgendetwas findet, womit wir arbeiten können. Und es gibt Opfer die deine Fähigkeiten brauchen", sagte er und obwohl Selene es nicht hören wollte, wusste sie, dass er recht hatte. Es gab mehr als ein Monster auf dieser Welt und mit Gus war ihre heiße Spur im wahrsten Sinne des Wortes gestorben.
„Das wichtigste aber ist: Dass du gesund wirst. Vielleicht findest du etwas in Gus Augen, dass uns weiter hilft. Ich habe bereits Fotos machen lassen, die du dir anschauen kannst, sobald es dir besser geht", meinte er, aber Selene hatte ihren Bruder bereits in die Augen gesehen. Sie hatte gesehen, wie er ihre Großmutter tötete. Auf die Sache mit James hatte sie sich zugegeben nicht konzentriert, da der Mord an ihrer Großmutter sie aus der Bahn geworfen hatte, doch sie ahnte bereits, dass sie nichts finden würde. Kurz schloss sie die Augen und versuchte sich an alles zu erinnern, was sie hatte lesen können, aber sie erinnerte sich nicht.
Dennoch kitzelte ihre Haut direkt über ihrem Brustbein und sie fuhr träge mit den Fingernägeln darüber, bis ihr wieder dieser merkwürdige Traum einfiel, den sie bei Ethan in der Nacht ihrer Begegnung gehabt hatte: Der Schatten, der sie heimgesucht hatte und der sie aus dem Traum katapultierte und sogar spuren auf ihrer Haut hinterließ. Sie hatte keine Ahnung, was das gewesen war. So funktionierten ihre Kräfte nicht, also können es nicht ihre gewesen sein. Es waren seine und sie würde ihr Haus darauf verwetten, dass es James Fähigkeiten waren.
Und als ihr das wirklich klar wurde schloss sie die Augen und kam einmal wieder zu dem Schluss, dass sie wirklich genug davon hatte ständig weitere mörderische Verwandte auszubuddeln.
„Ich will nicht in das Haus zurück", murmelte sie und spürte, wie er lächelte. Sie meinte es ernst. Sie liebte das Haus ihrer Großmutter, sie war dort groß geworden aber sie hatte auch einen kleinen Jungen auf ihrer Veranda gefunden und durch die Augen ihres Bruders gesehen wie dort ihre Großmutter ermordet wurde. Und dann war da noch die Tatsache, dass jemand sie dort beim Schlafen fotografiert hatte. Sie vermutete, dass es Gus gewesen war, aber es war auch egal: Es war gruselig. Sie würde keine Sekunde mehr in diesem Haus verbringen können.
„Du hast jetzt einen offiziellen Posten beim FBI, du könntest erstmal zu mir nach Quantico kommen", meinte er und obwohl er versuchte es nebensächlich klingen zu lassen, wusste Selene, dass das hier ganz und gar nicht nebensächlich ist.
„Sie sind aufdringlich Agent Ethan McAlan", murmelte sie und sein Lächeln wurde breiter.
„Ich meine es ernst, Selene. Ich weiß das zwischen uns passiert alles ziemlich schnell, aber ich kann mir nicht vorstellen-"
„Ja", unterbrach Selene ihn und schmiegte sich näher an ihn. Sie wollte ein neues Leben und sie wollte Ethan. Bei ihm zu sein war ihr momentan das wichtigste, den Gedanken von ihm getrennt zu sein, ertrug sie nicht.
Ethan rutschte etwas von ihr ab, um ihr in die Augen zu sehen und Selene lächelte ihn an bevor sie sich seinem Gesicht entgegenstreckte um ihn küssen zu können. Mag sein, dass der Fall erstmal auf Eis lag, aber das zwischen ihnen war definitiv noch lange nicht kalt.


Beta: Geany

Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt