Der Unterschied zwischen Anders und Böse

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Kapitel 46

Selene spürte die drückende Stimmung im Sheriffbüro und wagte es nicht, auch nur einen der herumwirbelnden Polizisten von der Arbeit abzuhalten, die hier gerade ihren Dienst taten. Es schien zwei Arten zu geben wie diese Menschen mit dem Verlust ihres Sherriffs umgingen. Die einen erledigten hoch motiviert und mit ernster Miene ihren Dienst und unterstützen die Einheit des FBI mit allen Kräften, andere wirkten eher verstört. Nur Michael Hirsch schien eine Ausnahme zu sein. Der frisch gebackene Sheriff des Ortes saß auf seinem Platz vor dem Büro, dass sich Lindsey gestern einverleibt hatte, und starrte mit steifer Miene auf das ehemalige Büro seines Bosses.

Selene musste keine Gabe besitzen um ihm die Trauer anzusehen, die er so krampfhaft versuchte zu verbergen. Von außen sah er aus wie ein ernster junger Mann der voller Tatendrang schien, aber seine Augen zeigten dunkle Ringe und sie bemerkte beim näherkommen leichte Rötungen als hätte er geweint.

„He", sagte sie und stellte sich vor seinen provisorischen Sitz und riss ihn damit aus den Gedanken. Sein Blick schnellte zu ihr und während er mit einer Erwiderung rang beugte sich Ethan von hinten zu ihr, strich über ihre Oberarme und drückte ihr einen Kuss auf ihre rechte Ohrenspitze bevor er ihr zuflüsterte: „Ich bin schon mal drin, sei vorsichtig mit ihm."

Selene wollte erwidern, dass sie sicherlich nicht die Macht hatte einen selbstbewussten Mann wie Michael Hirsch zu zerbrechen, aber als sie ihn wieder anblickte war sie sich da nicht mehr so sicher. Michael hatte das Schauspiel zwischen Ihnen mit fast schon trostlosen Blick beobachtet, bis Ethan im Büro verschwand.

Selene aber blieb vor seinem Tisch stehen.

„Hast du überhaupt geschlafen?", fragte Selene vorsichtig und zog sich einen Hocker aus der Nähe heran und setzte sich ungefragt. Die Wut auf Michael, die aus ihrer Vergangenheit heraus entstanden war, war komplett verraucht und übrig blieb nur ein merkwürdiges Gefühl der Verbundenheit. Sie mochte ihn, das hatte sie schon immer und das schlimmste an seine Taten als Teenager war nicht gewesen, dass er sich gegen sie und für seine sogenannten Freunde entschieden hatte, sondern das sie nicht mehr miteinander gesprochen hatten. In den wenigen Wochen, die sie zusammen verbracht hatten, hatten sie ständig einfach geredet und plötzlich wurde Seelene klar, das sie gute Freunde hätten werden können wenn es damals anders gelaufen wäre.

„Nein, und bevor du irgendetwas sagst: Meine Mutter hat mir bereits eine Moralpredigt gehalten und da kann man nicht mehr viel hinzufügen", antwortete er und für einen Augenblick hoben sich seine Mundwinkel. Selene kannte Michaels Mutter, eine hübsche große, schlanke Blondine mit einem schweren deutschen Akzent und einem sprühenden Wesen. Sie war eine wundervolle und grundauf sympathische Frau, die einen ebenso blonden aber definitiv etwas griesgrämigen Mann geheiratete hatte, der alles verkörperte, was Selene von einem Deutschen erwartete.

„Wie geht es ihr?", fragte Selene, dankbar für ein unbeschwertes Thema, sie hatte Michael Mutter seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.

„Sie hat sich Sorgen gemacht als du verschwunden bist und nachdem du mit dem FBI wieder aufgetaucht bist hat sie sich der Meinung meines Vaters angeschlossen, der mir ständig damit in den Ohren liegt, dass ich dich schlecht behandelt habe und dass das nun die Konsequenz ist." Murmelte er und Selene legte den Kopf schräg.

„Ich hab immer gedacht er mag mich nicht", erwiderte Selene und dachte an die brummige und einschüchternde Begegnung mit seinem Vater vor vielen Jahren. Michael zuckte mit den Schultern.

„Das dachte ich auch, er hat nie etwas gesagt, bis ich nach Hause kam und zu Mum meinte, du kämmst nicht mehr zu Besuch. Er hatte gerade Holz geschlagen. Da sah er mich einfach an und sagte, dass ich einen Fehler mache und dann einfach weiter gearbeitet. Er mochte dich wohl doch."

Selene konnte nicht verhindern, dass ihr kurz das Herz aufging. Aber der Gedanke wurde vertrübt als ihr auffiel, wie er in der Vergangenheit sprach.

„Ich hab nie gesagt, dass es mir leid tut. Das mit deinem Vater." Denn er war vor zwei Jahren an einen Herzinfarkt gestorben. Michael nickte dankbar, dann sah er sie direkt an.

„Ich sollte heute noch die Marke bekommen, habe sie aber vorerst abgelehnt. Es fühlt sich einfach falsch an, er war mein Mentor. Maria war eine gute Frau und seine beiden Mädchen einfach nur zauberhaft, wie könnte ich nur diese Lücke schließen?", wisperte er, wobei seine Stimme brach, er den Klos herunterschluckte und dennoch nicht verhindern konnte, dass ihm eine Träne entfloh, die er schnell wegwischte.

Selene wollte irgendetwas sagen, was ihm Trost spendete, doch noch eher ihr etwas einfiel unterbrach Michael sie.

„Ich war als Kind dort. In den Ruinen, meine ich. Meine Mutter hatte es mir verboten. Sie ist nicht abergläubisch aber sie glaubt, dass in jeder Legende etwas Wahres steckt."

Das konnte Selene nur bestätigen, denn obwohl Michaels Mutter ihr gegenüber nie unhöflich war, hatte man ihr die Skepsis angemerkt. Sie hatte Selene unheimlich gefunden, regelrecht gespürt, dass das Mädchen vor ihr ein Geheimnis in sich trug.

„Diese Morde. Scheiße. Ich weiß nicht was es ist aber da ist etwas furchtbares geschehen, schon lange vor dem hier, meine ich. Was ich da sah... ich weiß nicht wie ich mir das erklären soll." Er schwieg eine Weile und dann lachte er spötisch auf. „Mist, ich sollte schlafen und aufhören wirres Zeug zu reden."

„Was hast du gesehen?", fragte Selene und Michale fuhr sich mit beiden Händen durch die kurzen blonden Haare.

„Wahrscheinlich gar nichts. Ich war sieben oder so. Meine Eltern lebten gerade einmal ein Jahrzehnt in diesem Land und ich war ein Kind mit viel Fantasie. Wie jeder andere auch habe ich gespürt, dass mit diesen Ort etwas nicht stimmt. Nicht nur wie in deiner Nähe. Ich meine jeder weiß, dass du anders bist, was nicht unbedingt etwas Schlechtes ist, aber dieser Ort ist böse, Selene!"

„Was hast du gesehen?", fragte Selene ein weiteres Mal ohne auf seine anderen Kommentare einzugehen. Die Menschen spürten tatsächlich einfach nur dass etwas nicht normal an ihr war, das war schon immer so gewesen und damit konnte Selene leben.

Michael schluckte wieder, dann lehnte er sich über seinen Tisch in ihre Richtung.

„Ein Baum voller Leichen. Verstehst du? Damals schon. Vor fast zwanzig Jahren, da habe ich ihn bereits gesehen: Menschen aufgeknüpft an diesen Baum. Aber da war noch etwas: Ein Schatten. Etwas wirklich, wirklich Böses. Ich habe den ganzen Weg zurück zu unserer Farm geschrien und hab nie wieder ein Fuß in diesen Wald gesetzt. Deswegen wusste ich auch, dass du nicht so warst wie die anderen behaupteten. Du bist nicht böse, ich kenne den Unterschied. 

Beta: Geany

Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt