genug von Verwandschaft

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Kapitel 59
Selene träumte von Ethan, während sie neben ihm im Flugzeug saß und auch noch während der Fahrt und sie war froh, dass es ein normaler Traum. Keine Vision, ein ganz normaler Traum wie jede Frau ihn hatte, wenn sie verliebt war. Sie sah ihn vor sich, er hatte ihr Gesicht mit beiden Händen umfasst und lächelte sie an. Er küsste sie, sie wusste, dass er glücklich war, was damit auch ihr Glück bedeutete und sie lehnte sich an ihn, wollte einfach nur von ihm festgehalten werden. Ihre Gefühle für ihn waren überwältigend, sie glaubte niemals zuvor einen Menschen so geliebt zu haben und es würde ihr das Herz zerschmettern, wenn er gehen würde.
Es ruckelte leicht und Selene schlug die Augen auf als der Wagen hielt und betrachtete die Umgebung in der ihre Mutter jetzt lebte. Sie waren nicht mehr wirklich in New York, dies hier war eines der unzähligen Vororte, wo die gut betuchten Familien ihre Idylle lebten. Für einen Moment nahm sie all das nicht wahr, das Echo des Traumes hatte sich in ihrer Brust vergraben, Glück erfüllte ihr Herz und als sie dann begriff, dass sie sich tatsächlich in Ethan verliebt hatte, schnürte Angst ihr die Kehle zu.Verliebt zu sein war nicht gut. Jemanden die Macht über sein Herz zu geben noch sehr viel schlimmer, vor allem wenn man diese Gefühle einen Mann schenkte, den man kaum kannte. Sie wusste, dass es albern war so heftig für ihn zu empfinden, wollte aber auch nicht in Worte fassen, was sie und Ethan tatsächlich miteinander teilten. Liebe war es nicht, denn Liebe brauchte Zeit und alles was sie vorzuweisen hatten, war eine von der Gabe erzwungene Anziehung, die schon ziemlich viele Herzen im Stich gelassen hatte.
Zu dem einschlägigen Beispiel dazu waren sie gerade unterwegs.
Sie wurden erwartet, aber Selene verspürte dieselbe bleierne Panik in sich aufsteigen, wie damals als sie vor dem Sheriffbüro gestanden hatte. Alles in ihr weigerte sich dieses Haus zu betreten. Dieses Haus, dass ihre Mutter nur besaß, weil sie Selene abgeschoben hatte. Es stand für das Leben, dass Selene niemals gehabt hatte, für eine Zukunft die es nie gegeben hatte. Sie hasste dieses Haus, den schicken Vorgarten, die hübsche Nachbarschaft und die Menschen die darin wohnten. Es war irrational und eigentlich sollte sie nach all diesen Jahren nicht mehr so reagieren. Ihre Mutter hatte sie verlassen, sie weggeben, aber Selene hatte nie etwas vermisst. Das jetzt diese Wut zurückkehrte, die sie glaubte in ihren Teenagerzeiten abgelegt zu haben, war nervig und sie musste einsehen, dass sie doch nicht so gut darüber hinweg war, wie sie es geglaubt hatte oder wie sie es Derek und Ethan auf dem Weg hier her versprochen hatte.
„Ich sollte sitzen bleiben", sagte sie zu Ethan, der gerade dabei war auszusteigen und Derek nur einen kurzen Seitenblick zuwarf. Der Zorn musste ihr direkt ins Gesicht geschrieben stehen, denn obwohl Ethan sie mitgenommen hatte, weil ihre Gabe ihnen helfen konnte und Derek die Idee gut fand, weil Selenes als emotionalen Stressfaktor diente, der einen mögliches Lügenkonstrukt ihrer Mutter vorbeugte, nickten sie beide.
Ethan reichte ihr eine Jacke, auf die groß FBI gedruckt war und drückte noch einmal kurz ihre Hand.
„Zieh die an und bleib beim Wagen. Das sollte unnötige neugierige Frage vorbeugen", meinte er und musste nicht weiter erklären, was er damit meinte. Als sie die Einfahrt heraufgefahren waren, waren ihnen unzählige Blicke gefolgt und das, obwohl sie sich absichtlich für einen Mietwagen entschieden hatten, der nicht nach offizieller Behörde aussah. Das durften sie, die Jacken aber, die sie als Bundesagenten identifizierten, waren Pflicht. Wenn ein neugieriger Nachbar kam und fragte, was sie hier wollten, mussten sie sich zu erkennen geben.
„Wir müssen dich dazu holen, wenn sie abblockt", meinte Derek noch und wieder nickte Selene.
„Ich glaube nicht, dass sie das tun wird", sie hatte schlicht und ergreifend keinen Grund dafür. Sobald Karina Lagarotti erfuhr, weswegen das FBI sie um ein Gespräch gebeten hatte, wird sie ihnen alles über Gus erzählen was sie wusste, warum sollte sie dabei lügen? Sie hatte schließlich auch ihn einfach abgeschoben.
„Unterschätze nie den Mutterinstinkt einer Frau, das musste ich auf die harte Tour lernen", meinte Derek nur und reichte ihr den Elektroschocker aus dem Handschuhfach auf die Rückbank, wo sie und Ethan gesessen hatten. Selene nahm das Gerät und verkniff sich ein Kommentar über den Mutterinstinkt von Karina Lagarotti oder viel mehr über dessen Abwesenheit. Stattdessen lächelte sie ihn an, was angesichts ihrer Wut im Bauch sicherlich ziemlich erbärmlich aussah.
„Ich werde hier sein", sagte sie nur und Derek schloss die Fahrertür und wartete darauf, dass auch Ethan endlich komplett aus den Wagen stieg und sie ihren Job machen konnten. Er zögerte, sah sie durchdringend an, bevor er ihr noch einmal anwies: „Bleib wirklich, okay? Wenn jemand kommt, verschließ die Türen und bleib hier!" Selene verdrehte die Augen.
„Das habe ich schon beim ersten Mal verstanden. Ich brauche nur einen Moment um zu verarbeiten, dass ich überhaupt hier bin", gab sie zu und Ethan ließ jetzt endlich ihre Hand los und ließ die Tür hinter sich zufallen.
Selene sah dabei zu, wie sie im Haus verschwanden und bemerkte mit einer gewissen Beschämung, dass sie tiefer in ihren Sitz rutschte, als die Haustür aufging und ein alternder Mann die beiden mit einem Handschlag begrüßte und sie ihm ins Haus folgten.
Sie benahm sich wie ein Kleinkind, schollte sie sich selber und verschränkte dennoch ablehnend die Arme vor der Brust. Sie dachte über diese Wut nach die sie verspürte und kam irgendwann zu dem Schluss, dass es nicht nur die Tatsache war abgeschoben worden zu sein, die dieses Gift in ihren Magen aufsteigen ließ, sondern auch Eifersucht.
Ihre Mutter hatte ihren Vater verlassen, ihr Kind – im Kopf korrigierte sie sich schnell – ihre Kinder - abgeschoben und hatte sich hier ein neues Leben aufgebaut. Mann, Haus, weißer Lattenzaun und zweikommafünf Kinder. Selene hätte am liebsten im Strahl gekotzt als das Klischee ihr ins Gesicht spuckte und hasste sich dann gleich darauf wieder selbst dafür.
Es war albern. Ja, ihre Mutter hatte sie zu ihrer Großmutter gegeben, aber schließlich war es das Beste gewesen was ihr hätte passieren können. Hanna hatte sie geliebt und ihr beigebracht wie sie mit ihrer Gabe umgehen musste. Wer wusste schon, ob Karina das ebenso gut hinbekommen hätte. Und das sie ein neues Leben anfing, nachdem ihr Vater sich quasi selbst umgebracht hatte, konnte ihr nun wirklich keiner vorwerfen. Es war sicherlich auch für sie nicht einfach gewesen. Zwei verrückte Kinder, eine Hellseherin als Schwiegermutter und ein Mann, der freiwillig in den Krieg zog, um sich umbringen zu lassen.Selene war erwachsen, sie musste das was ihr passiert war und auch das was ihrer Mutter passiert war so differenziert betrachten wie es ihr Intellekt von ihr verlangte und das bedeutete auch, dass sie nicht wie ein kleines schmollendes Mädchen im Wagen sitzen bleiben konnte, während sie einen verfluchten Mörder jagten.
Sie atmete tief ein, zog sich diese Jacke über und steckte sich den Elektroschocker in die Tasche bevor sie aus dem Wagen stieg und sich ebenfalls auf den Weg zur Haustür machte. Es war ein schönes Haus, war sicherlich teuer gewesen. Neben der Haustür führte ein kleiner Weg in den Hinterhof und angezogen von einer Kinderschaukel, die sie in der Ferne sah, missachtete Selene Ethans gebot beim Wagen zu bleiben und entschloss sich dazu, sich ein wenig umzusehen.
An das Haus schlossen zwei Garagen an, von der eine geöffnet war und in der sie ein Motorrad entdeckte, das definitiv zu einem Teenager gehörte und Wehmut erfasste Selenes Herz als sie daran dachte, dass sie noch mehr Geschwister hatte als ihren verrückten Bruder. Doch sie war froh, dass sie keinen von ihnen begegnete und steuerte weiter auf den hinteren Garten zu, wo an einem großen Ast eines hübschen Baumes eine Schaukel hing. Die Seile, die es hielten, hatten bereits Grünspan angesetzt aber sie funktionierte sicher noch.
Während sie weiter über den Rasen ging, nahm sie hinter sich ein leises Schleifen war und drehte sich erschrocken um. Auf der Terrasse des Hintereinganges saß ein alter Mann im Schaukelstuhl, seine trüben, blassen Augen sahen blicklos durch sie hindurch, aber er hatte sie definitiv wahrgenommen, trotz seiner offensichtlichen Blindheit.
„Solltest du nicht in der Schule sein, Junge?", fauchte der alte und wippte weiter mit dem Stuhl und Selene fragte sich, wie sie darauf reagieren sollte. Der Mann meinte sicher nicht sie, sondern seinen Enkel. Aber sie entschloss sich schnell professionell zu bleiben, der Mann war schließlich blind und sie musste diese Verwechslung auflösen.
„Tut mir leid, Sir. Ich bin nicht ihr Enkel", meinte sie und wusste in dem Moment, dass sie eventuell gelogen hatte. Selene hatte sich nie Gedanken über ihre Großeltern Mütterlicherseits gemacht und wusste nicht einmal, ob sie nicht lebten, noch ob dieser Mann einer von ihnen war. Eine Stimme in ihrem Hinterkopf stöhnte genervt auf und gab ihr zu bedenken, dass sie fürs Erste genug von überraschender Verwandtschaft hatte.
„Oh. Gehören Sie zum FBI?", fragte der Mann und Selene atmete dankbar auf.
„Ja, Sir. Meine Kollegen reden gerade mit Mister und Misses Lagrotti", nahm sie den Ausweg dankbar an.
„Aha. Geht um den Jungen, den meine Schwiegertochter noch irgendwo hat, oder? Schlimme Sache, hat sie nie ganz verwunden. Mehr kann ich dazu nicht sagen", meinte der Alte und Selene schloss dankbar die Augen. Kein weiterer Verwandte – Gott sie Dank.
„Das ist okay, Sir. Ich hoffe sie haben nichts dagegen, wenn ich mich ein wenig umsehe", sagte Selene weiter und der Mann erhob sich mühselig von seinem Stuhl.
„Ne... tun Sie sich kein Zwang an. Soll ich ihnen was zu trinken holen?", fragte der Mann, der sich offensichtlich gerade an seine Pflichten als Gastgeber gewöhnt hatte. Selene schmunzelte und beobachtete fasziniert, wie der Mann nach seinem Stockgriff und zielsicher die Terrassentür ansteuerte, als müsste er sie nicht sehen um zu wissen, wo es lang geht.
„Das wäre sehr nett, danke", meinte Selene, ebenfalls darauf bedacht höflich zu bleiben, vielleicht konnte er ihr ja doch noch etwas sagen, was sie weiter brachte. Der Mann verschwand im Haus und Selene drehte sich erneut zur Schaukel um und erstarrte, als sie einen jungen Mann dort sitzen sah.


Beta: geany

Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt