Charmant, nicht so wie Agent McAllen

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Kapitel 13

Als die Tür aufging, hob Selene ihren schwer gewordenen Kopf und versuchte das Zittern in ihren Händen zu unterdrücken. Der Kaffee hatte sie aufgeputscht, aber die mentale Erschöpfung wollte sie Tage schlafen lassen. Ethan sah nicht erschöpft aus. Selbst jetzt, weit nach Mitternacht, wirkte er wie ein Fels in der Brandung mit dieser großen, einschüchternden Statur und der unbewegten Miene.

Das Einzige was an die späte Stunde erinnerte, war der Schatten auf seinem breiten, störrischen Kinn. Ethan gehörte zu den Männern, die dazu gezwungen waren sich jeden Tag zu rasieren, was er allerdings nicht jeden Tag tat. Trotz der schicken Anzughose und dem teurem Hemd, verlieh ihm das etwas ziemlich unzivilisiertes, von dem sie sich nicht abwenden konnte.

Dann kam ein weiterer Mann herein. Er war so groß wie Ethan, hatte die selben breiten Schultern, war aber sehr viel älter. Sein schwarzes Haar war an den meisten Stellen schon grau, aber sonst hätte er Ethans Zwilling sein können, wenn er nicht so viel ordentlicher ausgesehen hätte. Er trug einen kompletten Anzug, die Haare waren anständig zurück gegellt und seine Wangen absolut glatt rasiert.

Charles Croffort. Ethans Onkel und dessen Vorgesetzter. Sein Blick traf ihren und für einen kurzen Moment schien er nicht daran zu glauben, was er da gerade sah. Genau wie Ethan vor ihm.

„Du bist Alice?", fragte er mehr als skeptisch und musterte Selene von ihrem roten Haarschopf bis hin zu ihren zierlichen Füßen, die in abgetragenen Turnschuhen steckten. Selene machte sich nicht die Mühe aufzustehen, aber sie legte einen arroganten Gesichtsausdruck auf.

„Bekomme ich auch von Ihnen zu hören, dass ich zu jung dazu wäre Agent Croffort? Machen Sie sich keine Mühe, ihr Neffe war bereits so frei das zu tun. Herzlichen Glückwunsch zur Beförderung übrigens, meine Hilfe hat sie weit gebracht." Das sollte unhöflich, wütend und alles andere als vertrauensvoll klingen und das tat es auch. Doch anstatt wütend auf sie zu sein, erschien auf Charles Gesicht ein sehr breites Grinsen, das seine Augen komplett einnahm und er kam fast schon euphorisch auf sie zu und reichte ihr die Hand.

„Es ist mir eine Ehre, Sie endlich kennenzulernen. Ich hoffe Ethan war nicht allzu unhöflich und behandelt Sie mit dem Respekt, den Sie verdienen. Falls er das nicht tut, zögern Sie nicht, es mir zu sagen."

Selene ergriff seine Hand und schüttelte sie zur Begrüßung bevor sie sich erhob. Selbst als sie mit ihrer geringen Körpergröße zu ihm aufblicken musste, verwandelte sich sein Ausdruck in nichts was sie herabsetzte. Dieser Mann hatte ehrlichen Respekt vor ihr und war ein wesentlich angenehmerer Zeitgenosse als sein arroganter Neffe.

„Selbstverständlich wird meine Behörde alles tun, um dieses Problem aus der Welt zu schaffen und wir würden uns wirklich darüber freuen, wenn Sie uns auch dieses Mal unterstützen würden." Das...ging ja schnell und war überraschend einfach. Selene war nicht dazu in der Lage ihre Verwunderung zu verbergen.

„Sie stimmen also zu, mich nicht von den Ermittlungen auszuschließen, obwohl ich bestenfalls eine Zeugin und schlimmstenfalls eine Verdächtige bin?", fragte sie noch einmal und begegnete Ethans harten, dunklen Blick, während sie seine Worte aus dem Fahrstuhl wiederholte.

Charles Gesichtsausdruck wurde nun ernster und es lag so viel Finsternis in ihm, dass Selene der Versuchung kurz erlag und ihre Gabe versuchte anzuwenden. Nebel hüllte sie ein. Undurchsichtig, finster und dann hörte sie Schreie und spürte den Schmerz, der Charles selbst immer wieder verstörte, wenn er sich daran erinnerte.

Er hatte viele geliebte Menschen auf brutale Art und Weise verloren. Zu viele um nicht daran zu zerbrechen und doch stand er hier und wirkte stark und freundlich. Selene zog sich zurück, bevor sie Gesichter zu diesen Stimmen bekommen könnte. Sie hatte genug eigene Albträume, so gemein wie es klang: Seine musste er für sich behalten.

„Ich gebe zu, das wird für Probleme sorgen. Aber außerhalb von Ethans Team wird niemand erfahren, dass sie Alice sind und so kann Alice wie immer ein wertvoller Informant sein, während Selene James für die Außenwelt nur eine Zeugin bleibt." Das war ein sehr guter Vorschlag, dennoch verengte Selene die Augen und bemerkte erst jetzt, dass sie immer noch Charles Hand hielt. Er hatte sie in seiner überschwänglichen Freude nicht losgelassen und sie hatte es einfach vergessen.

Sie zog ihre Hand aus seiner und Ethan runzelte die Stirn, auf diese steht's missbilligende Art und Weise, die ihre Wut weckte. Nicht dieselbe Wut wie auf den Mörder ihrer Großmutter oder ihre Wut auf alle, die sie immer so schlecht behandelt hatten. Es war die Wut einer Frau über die Arroganz eines Mannes.

„Wäre es möglich, dass wir das weiter einschränken? Auf sie und Agent McAllen?" fragte Selene und Charles verzog kurz das Gesicht, als hätte er schmerzen.

„Oh das ist..."

„Es kommt nicht infrage, diese Leute ermitteln in einem Fall, der mit deiner Rolle als Alice zu tun hat. Sie müssen wissen was los ist, um ihren Job zu machen. Ich vertraue meinem Team vollkommen und das solltest du auch, wenn du unsere Hilfe willst", fuhr Ethan dazwischen und ihr entging nicht, dass er andauert zwischen der höfliche Ansprache, mit ihrem Nachnamen und dieser persönlichen von gerade, ständig hin und her wechselte. Ganz so als würde er ganz alleine bestimmen, wann es persönlich wurde und wann nicht. Noch ein Ausdruck seiner Arroganz, aber auf dieses Spielchen würde sie sich nicht einlassen. Leider hatte er zumindest mit dem Inhalt seiner Worte recht, auch wenn seine Formulierung sie absolut nicht erfreute.

Also verkniff sie sich ein wütendes Kommentar und durchbohrte ihn lediglich mit einem tödlichen Blick.

„Schön", gab sie ihr ungewolltes Einverständnis und natürlich versuchte Charles ihre offensichtliche Unmut sofort zu umgehen.

„Leider, Miss James, haben wir dem Team bereits erklärt, um was es geht und wer sie sind. Es lässt sich leider nicht rückgängig machen, sonst würde ich mein Bestes geben Ihrem Wunsch zu entsprechen." Er war wirklich ziemlich nett. Selene schenkte ihm ihr wärmstes Lächeln.

„Ich danke Ihnen Agent Croffort. Ich stehe tief in Ihrer Schuld."

„Ach Unsinn! Wir stehen in Ihrer und bitte nennen Sie mich Charles", bot er höflich an, was Selene mit einem ehrlichen Grinsen bedachte.

„Vielen Dank, Charles. Ich habe mit so viel entgegenkommen wirklich nicht gerechnet." Daraufhin verabschiedeter er sich mit einer britischen Höflichkeit, die Selene den Glauben an etwas Gutes in der Welt zurückgab. Naja, zumindest so lange bis sie sich mit Ethan alleine im Verhörraum wiederfand.

„Ich sagte es ja, er mag mich", neckte sie ihn mit einer übertriebenen Überheblichkeit. Ethan zog eine Augenbraue nach oben.

„Hab ich gemerkt", knurrte er zwischen zusammen gebissenen Zähnen und öffnete demonstrativ die Tür.

„Ich fahre dich zu deinem Wagen oder gleich in ein Hotel, ganz wie Sie es wünschen, Miss James. Um Ihren Wünschen zu entsprechen." Seine Stimme versuchte die seines Onkels zu imitieren und er hatte tatsächlich die Nerven ihr mit einer angetäuschten Verbeugung den Vortritt zu gewähren. Idiot.

„Machen Sie sich nur darüber lustig, aber was Charme und Höflichkeit angeht, könnten Sie noch etwas von Ihrem Onkel lernen", zischte sie ihn an, bevor sie wie eine Prinzessin an ihm vorbeiging und das leise Kichern in ihrem Rücken ignorierte.

Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt