Albträume

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Kapitel 15
Wenn es so etwas wie sie gab, ein Orakel, einen Menschen, der in die Zukunft sehen konnte, gab es dann auch all die anderen Kreaturen von denen die Märchen erzählten? Gab es Hexen und Drachen, Geister und Kobolde? Gab es tanzende Feen, die über die Hügel flogen und Blumen zum Blühen brachten? Als Kind hatte sich Selene das oft gefragt, doch die Antwort ihrer Großmutter war ernüchternd gewesen.
Nein, diese Dinge gab es nicht. Ihre Fähigkeit hatte sich wie alles andere auch nur aus einem Grund herausgebildet und so lange überlebt: Sie bot einen evolutionären Vorteil. Aber Selene hatte sich ungläubig gegenüber dieser Erklärung gezeigt und weiterhin fest daran geglaubt, dass eine Göttin über sie alle wachte und ihnen den Weg leitete.
Solange zumindest bis diese Träume begonnen hatten. Die prophetischen Träume über sich und einen Mann mit steht's zornigen Ausdruck auf dem Gesicht, der sie aufs Bett drückte, ihre Beine auseinander zog und sich so tief in ihr versenkte, dass sie es bis in ihren kleinen Zeh spüren konnte.
Diese Träume hatten ihr genau vor Augen geführt wie primitiv der Sinn ihrer Fähigkeit eigentlich war, wie wenig Magisches in ihren Wurzeln lag. Mit den Träumen von Sex hatte sie den Kern des Ganzen erblickt: Fortpflanzung, Gen Erhaltung, Evolution. Ihre Großmutter hatte von Anfang Recht gehabt und obwohl Selene wie jeden Abend im Bett stumm zu Carmenta - Göttin der Weissagung und der Geburt- betete, wusste sie doch, dass es da niemanden gab der sie erhörte.
Aber so war das nun einmal mit dem Glauben: Nichts bot wirkliche Sicherheit und der Zweifel überwog immer, auch wenn sie gerade jetzt tatsächlich göttlichen Beistand gebraucht hätte.
Ethans Bett war warm, roch unendlich maskulin und riss ihre inneren Barrieren entzwei, mit denen sie sich immer vor diesen Träumen beschützt hatte. Sofort flammten Bilder in ihrem Kopf auf, die ein Kribbeln in ihrem Magen auslösten: Visionen von sich selbst und ihm.
Er lag flach auf dem Rücken, auf seine breite, muskulöse Brust mit dem sexy Flaum darauf, lag ihre eigene zierliche Hand. Ihre helle Haut hob sich extrem von der seinen ab, während sie rittlings auf ihm saß und ein Sturm der Lust durch ihren Körper fegte wie ein Orkan. Er stöhnte. Sie hörte es, als wäre es nicht nur in ihrem Kopf und als seine Hände nach ihr griffen, um ihre wiegenden Hüften zu einem härteren Rhythmus anzuspornen, hätte sie schwören können, das ebenfalls wirklich zu fühlen.
In einem kurzen Anfall von mentaler Schwäche gab sich Selene der Fantasie hin und wünschte sich regelrecht einen erotischen Traum zu erleben, der sie von der bizarren Wende ihres Lebens ablenken konnte. Dann aber änderte sich der Traum. So schnell, so gewaltig, als hätte sie eine fremde Macht von den Füßen gerissen und durch den gesamten Raum geworfen.
Blut. Sie sah Blut. Selene riss die Augen auf und setzte sich im Bett aufrecht hin um abzuschütteln, was auch immer sie da in seinem Griff gefangen hielt. Doch sie konnte sich der Vision nicht entziehen.

Sie stand in einer ihr unbekannten Küche und sah zerfetztes Fleisch, roch gammelndes Blut und den widerlich penetranten Geruch von Verwesung, der im Raum hing wie ein billiges Parfüm. Es war so ekelerregend, dass Selene im Bett ihre Hand auf den Magen presste, um das Rumoren darin zu beruhigen.

Dann hörte sie das leise Wimmern eines Kindes, das sie wie eine Sirene zu sich zog. In der Vision strahlte der Ursprungsort dieses Geräusches durch alle Wände bis zu ihr hindurch. Es war, wie in jeder Vision, einfach durch die Wände und Böden zu Blicken und die kleine schemenhafte Gestalt zusammen gekauert hinter einer Wand auszumachen.
Dann hörte sie schwere Schritte hinter sich und ein Schatten glitt durch ihren nicht existierenden Körper. Er war das genaue Gegenteil von der strahlend leuchtenden Silhouette des Kindes. Groß, Dunkel und unverkennbar böse.
Er lehnte sich an die Wand, als würde er lauschen und dann drückte er eine geheime Tür auf, um nach dem Kind zu greifen. Das Wimmern verebbte und ein Schrei zerriss die Luft wie ein Messer.
„NEIN! STOPP!", schrie Selene, griff nach dem Schatten und versuchte ihn davon abzuhalten dem Kind etwas anzutun. Natürlich war das albern. Das hier war nur eine Version, ein Erlebnis, das überall und nirgends stattgefunden hatte. Sie konnte nicht helfen, nicht eingreifen. Sie sah einfach nur zu. Ihre Hand glitt durch die Gestalt hindurch und zu ihrem Schrecken riss der Schatten den Kopf zurück und blickte sie an. Ganz so als würde er sie sehen. Selene wich zurück, konnte sich aber nicht schnell genug zurückziehen, da preschte auch schon ein Arm nach vorne in ihre Richtung und traf sie so heftig gegen die Brust, dass Selene aus ihrer Vision gerissen wurde.
Mit einem dumpfen Aufprall kam sie auf dem Boden neben dem Bett auf und war so damit beschäftigt gewesen ihre Brust mit den Händen vor diesem Schlag zu schützen, dass sie ihren Kopf vergaß und ihn sich hart anstieß. Kurz blieb sie wie benommen einfach liegen, dann sah sie wie Ethan die Tür zum Schlafzimmer aufriss und auf sie zu gestützt kam.
„Selene? Selene? Hörst du mich? Was ist passiert?", fragte er mit der typischen Dominanz in der Stimme, die eine sofortige Antwort auf seine Fragen forderte. Selene sah trübe zu ihm auf, versank in den lebhaften, dunkelbraunen Augen, die auf sie herabblickten

„Hast du dir den Kopf gestoßen?" Seine Finger schoben sich in ihren Nacken und stützten sie, als er sie aufsetzte und ihre Wange an seine Schulter legte. An seine nackte Schulter. Selene spürte die warme Haut an ihrem Gesicht und seine langen, kraftvollen Finger, die durch ihr Haar glitten und ihre Kopfhaut untersuchten. Sie war noch immer benommen, hing mit zu vielen Teilen von sich selbst immer noch in dieser Vision fest, doch dann irgendwann gewann der Schmerz die Oberhand.
Zögerlich griff sie nach dem Ausschnitt ihres Schlaf-T-Shirts und zog es so weit auseinander bis sie einen Blick zwischen ihre Brüste erhaschen konnte und sah, wie sich zwischen den üppigen Hügeln ein dunkler Fleck bildete. Mist.
Das war das erste Mal, dass sie eine Vision über jemand anderen als sich selbst im Schlaf hatte. Normalerweise brauchte sie dafür Blickkontakt Sie hatte keine Ahnung was zum Teufel das gewesen war oder wie es möglich war, dass sie dabei hatte verletzt werden können, aber es war geschehen und sie würde es niemanden wirklich erklären können. Sie ließ den Rand wieder los, genoss Ethans sanfte Prüfung ihres Kopfes und beschloss ihm von der Verletzung nichts zu erzählen.
„Hast du irgendwo Schmerzen?", fragte er und machte Anstalten auch noch den Rest ihres Körpers prüfend zu betrachten. Erst da wurde Selene bewusst, dass sie hier in nichts weiter als einem langen Sport T-Shirt saß. Ohne Hose und lediglich mit peinlichen schwarzen Socken mit weißen Punkten und einen Slip mit demselben Muster. Was er sehen konnte. Beides.
Selene schob ihn beiseite, doch als ihre Hände seine nackte Brust berührten und sie die harten Konturen seiner Muskeln darunter spürte, zog sie ihre Finger schnell zurück und versuchte von ihm loszukommen, ohne ihn ein weiteres Mal zu berühren.
„Nein danke, ich hatte lediglich einen Albtraum", meinte sie immer noch leicht benommen, rappelte sich aber auf und setzte sich zurück auf das Bett. Als sie einen Blick zurück wagte, saß Ethan noch immer auf dem Boden. Nichts weiter am Leib als eine alte Schlafanzughose, die ihm so tief auf den schmalen Hüften saß, dass ihr ganz mulmig bei dem Gedanken wurde. Er sah wirklich absolut unverschämt gut aus, hätte er jetzt auch nur etwas Charme zu bieten, wäre er ein wahrer Womanizer. Obwohl sie zugeben musste, dass es ihm nicht an weiblichen Bekanntschaften mangelte.
Ethan erhob sich in einer fließenden Bewegung, die Selene kurz rot anlaufen ließ und verließ wortlos den Raum. In dieser Nacht würde Selene sicherlich keinen Schlaf mehr abbekommen, das wusste sie genau. 

Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt