Kapitel 12
„Der Großteil der örtlichen Polizei verdächtig immer zuerst mich, wenn etwas passiert. Es sind Schafe gestorben? Sehen wir mal nach, wo die James-Hexen an dem Abend waren. Ein paar Kinder haben gekokelt? Sehen wir erst mal nach, wo die James-Hexen waren. So ging es Jahre lang. Etwas passierte und eine halbe Stunde später stand die Polizei vor unserer Tür. Ich bin so oft von der Polizei aus dem Klassenzimmer geholt worden, dass ich es nicht zählen kann und nur fürs Protokoll: Nein, ich habe nie etwas angestellt, meine Akte ist sauber. Ich parke nie falsch und gehe nicht bei Rot über die Ampel. In NewHollow hätte ich dafür achtundvierzig Stunden in einer Zelle gesessen."
Derek schluckte und es war ihm anzusehen, dass er das Vorgehen seiner Kollegen eigentlich verteidigen wollte. Rein aus Instinkt, das hätte sie ihm niemals vorgeworfen, schließlich neigten sicherlich einige Befragte zur Übertreibung. Dennoch schwieg er und Selene war froh darüber, denn sie wusste nicht, ob sie mit ihren angespannten Nerven, ausgerastet wäre.
„Warum dann nicht in einem Nachbarort?", fragte er weiter und Selene schloss resigniert die Augen. Dann fiel ihr Sheriff Henry Ludwill wieder ein. Dass was sie beschrieben hatte, war vor seiner Zeit gewesen und dass sie diese Aussage so stehen ließ, hatte er nicht verdient.
„Es war ein Fehler nicht zu den Behörden in NewHollow zu gehen. Als Sheriff Ludwill das Amt übernommen hatte, hörten die Schikanen auf. Er ist ein guter Polizist und glaubt nicht an Hinterwäldler geschwätzt. Ich glaube auch, dass er mir geholfen hätte. Aber er braucht Hilfe, ich will dass er die Hilfe des FBI bekommt, weil es persönlich ist. Es geht um meine Großmutter. Deswegen bin ich hier. Deswegen...", sie druckste etwas herum, wollte aber auch ehrlich mit sich selbst sein, „Und weil ich vielleicht für eine Sekunde durchgedreht bin und in mir diese Schikanen der Polizei wieder hochgekommen sind", gestand sie wage. Es war merkwürdig so ehrlich zu sein und schwer, vor allem bei den Wahrheiten, die sie sich selbst nicht eingestehen wollte.
„Deswegen sind Sie zu Agent McAllan gegangen?", fragte Derek unnötigerweise. Selene nickt nur, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und wartete auf seine nächste Frage.
„Ich nehme an, Sie werden wieder schweigen, wenn ich Sie noch einmal frage, woher sie Agent McAllen kennen?" Wieder ein Nicken.
„Wollen Sie gar keine Details wissen? Über die Morde?", fragte sie, tatsächlich in der Hoffnung, dass er sie mit solchen Fragen nicht dazu zwingen würde, zurück in diesen Albtraum zu fallen.
Der Mörder ihrer Großmutter hatte einen kleinen Jungen umgebracht und ihn wie ein kaputtes Spielzeug auf ihrer Veranda abgelegt. Er hatte die Augen ihrer Großmutter herausgerissen und aufgehoben für genau diesen Moment. Es tat weh. Sie fühlte sich gedemütigt und verhöhnt. Sie hatte sich für taff gehalten, für abgebrüht. Sie war eigentlich niemand der Trübsal blies, sicherlich hatte die ständige Ablehnung von Anderen Spuren in ihr hinterlassen, aber sie hatte sich geweigert dadurch zu verbittern oder alle Menschen zu hassen. Selbst nach dem Mord ihrer Großmutter. Doch nun spürte sie etwas in sich, dass sich nur als Zorn umschreiben ließ und zwar auf alle Menschen, die das hier zugelassen hatten.
Hätte die Polizei bei Hanna James Mord besser ermittelt, hätten sie sicher mitbekommen, dass dieser Kunde sie nicht ermordet hatte. Sie hätten Fragen gestellt, die sie zu dem wahren Mörder geführt hätten. Aber die Wahrheit war: Es hatte niemanden gekümmert, wer die alte Hanna umgebracht hatte. Sie war eine Ausgestoßene gewesen. Der einzige Grund warum sie überhaupt ermittelt hatten, war wohl, dass der alte Sheriff nicht direkt nach einem ungeklärten Fall in Rente gehen wollte. Das hätte nach einem Versagen ausgesehen.
Deswegen war dieser Junge tot und sie saß hier und versuchte die Nerven zu behalten während sie erneut den Verlust der Frau durchlebte, die sie als Einzige wirklich geliebt hatte. Und das machte sie wütend. Sehr wütend.
„Ich glaube, Sie haben für heute genug durchgemacht, Miss James", sagte Derek und beendete die Aufnahme der Kamera. Selene schloss die Augen und dann bahnten sich die Tränen an die Oberfläche, die sie all die Stunden zurückgehalten hatte. Aber sie waren nur zum Teil der Trauer und dem Trauma verschuldet, das sie nach dem Anblick von Karl sicherlich hatte. Es waren auch Tränen des Zornes.
„Kann ich Ihnen noch etwas bringen?", fragte er, während Selene zitternd Luft holte und sich die feuchten Wangen abwischte. Sie schüttelte den Kopf und rang sich ein Lächeln von den Lippen. Sie würde auch weiterhin gut gelaunt sein, weiterhin den Menschen helfen wollen, wie es ihre Aufgabe war. Sie würde einfach nur besser sein, als die Leute in der Gemeinde. Das Richtige tun. Und sie würde es ihnen allen unter die Nase reiben, das würde ihre Rache an ihren Nachbarn und ehemaligen Mitschülern werden. Aber dieser Mörder: Da würde es nicht so subtil laufen. Er hatte sich an ihrer Familie vergangen und die Unverschämtheit besessen in ihr Zuhause einzudringen und sie zum Narren zu halten. Dafür würde er bezahlen.
„Nein. Ich warte hier auf Agent McAllen", sagte sie und griff demonstrativ nach ihrem Sandwitch. Derek nahm die Kamera und erhob sich dann ohne ihr dabei in die Augen zu sehen.
„Ich sage Ethan Bescheid, dass Sie auf ihn warten", meinte er nur und verließ dann langsam den Raum. Selene war froh einige Minuten für sich zu haben. Nur ein paar Minuten um die Tränen versiegen zu lassen und den Zorn wieder in sich zu verschließen. Sie konnte nicht klar denken, wenn sie so wütend war und sie würde jeden klaren Gedanken benötigen, um diesen Dreckskerl in die Finger zu bekommen. Und das würde sie.
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Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1
Mystère / ThrillerSeit vier Jahren unterstützt Selene mit ihren Fähigkeiten unter dem Pseudonym Alice das FBI bei ihren Ermittlungen. Aber als eine Serie von grausamen Verbrechen ihre Heimatstadt in Angst und Schrecken versetzt, wird es persönlich. Selene muss einseh...