Kapitel 38
Selene trank das Glas wieder aus, nahm Ethan die Flasche aus der Hand und machte noch einen tiefen Zug um den Mut zu finden, es ihm zu sagen. Fann drehte sie sich zu ihm um.
„Er will verhindern, dass ich euch helfen kann", sagte sie und Ethan runzelte verwirrt die Stirn. „Was meinst du damit?"
Selene stellte die Flasche ab und knetete ihre Hände um Zeit zu schinden, bis der Alkohol es ihr leichter machen würde. Aber den Gefallen tat er ihr nicht.
„Ich...", sie stockte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie es sagen sollte, wie sie es verständlich machen konnte. „Ich hacke nicht, um an die Informationen zu kommen. Das ist es doch, was ihr glaubt, oder?" fragte Selene und Ethan trank sein Glas ebenfalls leer und stellte es neben der Flasche auf dem Tisch ab. Er rieb sich die Schläfen, als würde ihn irgendetwas frustrieren. „Ehrlich gesagt, glaube ich das nicht. Es passt nicht und Hinweise darauf gibt es auch nicht, ich glaube ... ach Mist, ich habe keine Ahnung Selene und ich weiß auch ehrlich gesagt nicht wie es-„
„Die Gerüchte sind wahr ", brach es aus Selene heraus und fuhr Ethan damit über den Mund. „Alles. Naja, nicht alles. Aber ich glaube, dass der Ausdruck Hexe ziemlich gut passt, auch wenn die Bezeichnung mir nicht wirklich gefällt. Wir nennen es das zweite Gesicht", fuhr sie schnell fort und als Ethan wenig beeindruckt einfach nur dastand und sie ansah, nutzte sie die Chance um weiter zu reden.
„Meine Großmutter konnte in die Zukunft sehen und ich ... ich sehe Dinge, wenn ich Menschen in die Augen sehe. Ihre Vergangenheit. Nicht alles, nur sehr prägende Moment und ..." sie stockte, wieder, weil sie nicht wusste, wie sie es erklären sollte. Verdammt, sie hatte es noch nie erklären müssen und umso länger sie davon sprach, umso verrückter klang es. Ethan blickte sie weiter einfach an. In seinen Augen spiegelte sich weder Entsetzen noch Verwirrung. Er stand einfach da und sah sie an und umso länger er das tat, umso unsicherer wurde Selene. Die Stille zog sich, nur der Fernseher im Hintergrund unterbrach die Schwere des Momentes. Irgendwann schien er es halbwegs verstanden zu haben.
„Beweis es. Was ist mein prägendster Moment?", fragte er und stellte sich so dicht vor sie, dass sie sich in seinen Augen verlieren könnte. Selene kannte seinen prägendsten Moment. Aber der war so frisch, dass er sich dieser Bedeutung wohl selbst kaum bewusst war also...
„Der Tag, an dem du nur auf alles einschlagen wolltest. Du warst zwölf und hast dich einfach unvollständig gefühlt. Dann der Moment als deine Eltern dich zu deinem Onkel gebracht haben. Er half dir, wieder klarzukommen. Er gab dir ein Ziel und eine Aufgabe. Sie erfüllte dich nicht, aber es lenkte dich ab. Und dann..."
„Dann?", fragte Ethan und dieses einzelne Wort klang so wütend, dass Selene kurz zusammen zuckte. „Dann stand ich vor deiner Tür", flüsterte sie mehr zu sich selbst als zu ihm. Denn das war aktuell der Moment, in dem sich seine Gefühlswelt wieder einmal vollkommen verlagert hatte. Dieser Moment hatte sich in seinen Kopf eingebrannt und würde ihn für den Rest seines Lebens begleiten.
Wieder wurde es ruhig. Ein Gesichtsausdruck wechselte von wütend, zu Verwirrung und Unglaube und irgendwann zu etwas wie unfreiwillige Akzeptanz.
„Angenommen ich glaube dir diesen Scheiß, warum erzählst du es mir jetzt?", fragte er und machte einen Schritt zurück. Selene spürte die Abweisung so heftig, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Aber daüber konnte und durfte sie sich keine Gedanken machen.
„Weil diese Augen keine Trophäen sind. Ich hatte gehofft sie wären es, aber er hat die Augen nur entfernt, wenn er wusste, dass ich mit den Leichen in Berührung kommen würde. Er weiß von meiner Fähigkeit und versucht sie damit zu umgehen, da bin ich mir mittlerweile sicher."
Ethan fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und ließ sich auf das Bett fallen. Es war erstaunlich, wie ruhig er war. Selene würde selbst niemals so ruhig bleiben können, aber sie bezweifelte auch, dass er sich ernsthaft mit dieser Information auseinandersetzte. Er nahm es einfach hin, ohne sie wirklich zu hinterfragen. Was bedenklich war. Er sollte vollkommen fertig sein, sie mit Fragen überhäufen, sie als Spinnerin beschimpfen sie...
„Das kannst du auch bei Leichen?", fragte Ethan stattdessen. Brachte das Thema zurück zu dem Fall, als würde es nicht sein gesamtes Weltbild auf den Kopf stellen.
„Ja, zumindest wenn sie noch nicht all zu lange Tod sind. Deswegen verlangte ich die Bilder von den Opfern. Fotos funktionieren auch, leider sind sie selten aktuell. Der Tod ist ein sehr einprägendes Erlebnis, meistens aber auch der Letzte." Wisperte sie leise. Plötzlich zog Ethan sein Handy aus der Hosentasche und wählte eine Nummer.
Selenes Puls beschleunigte sich und sie riss die Augen panisch auf. Was tat er? Würde er sie verraten? Sie in die Klapse stecken lassen? Was hatte er...
„Lindsey? Wie weit seid ihr mit den Leichen? Kann Selene sie sich ansehen?", fragte er und Selene spürte wie ihr die Tränen herabliefen. Wenn er sie verriet, was würde dann aus ihr werden? Horrorszenarien liefen in ihren Kopf ab und...
„Könnt ihr dann zumindest Bilder von den Gesichtern machen? Vielleicht erkennt Selene sie, falls sie aus der Gegend stammen wäre eine Identifikation hilfreich", erklärte er sachlich und ganz ohne die Erwähnung ihrer Fähigkeit. Vor Erleichterung wäre Selene fast in sich zusammen gesunken, spannte sich aber gleich wieder an, weil Ethan ungehalten wurde.
„Das weiß ich selbst, nur leider habe ich keine Zeit sie mit Samthandschuhen anzufassen!", donnerte er los und dann traf sein Blick auf Selene. „Danke.", zischte er zur Verabschiedung und warf das Telefon neben sich.
„Hast du mir noch was zu sagen?", fragte er immer noch wütend und Selene wusste nicht, was da gerade in ihm vorging. Natürlich war es schwer das zu verarbeiten aber... sie schüttelte den Kopf und er erhob warnend eine Augenbraue.
„Wenn du mich in irgendeiner Form manipuliert hast, damit ich etwas für dich empfinde und dir helfe, sagst du es mir besser jetzt: ich verspreche zu bleiben und diesen Fall aufzuklären, aber wenn du mich über diesen Zeitpunkt hinaus belügst..." Sie schüttelte noch heftiger den Kopf und plötzlich wusste Selene warum er so wütend war. Er glaubte ihr oder hielt es zumindest für möglich und er glaubte außerdem, dass sie für seine Gefühle verantwortlich war.
Womit er auch nicht ganz Unrecht hatte und diese Unsicherheit schien er ihr anzusehen.
„Sicher?", fragte er ernst und diesmal konnte Selene den Kopf nicht schütteln. Sie dachte an die Visionen die sie seit Jahren von ihm hatte. An das Band was sie aneinander band //aneinander fesselte, als die beste genetische Kombination. War das Manipulativ? Ja. Das war es, auch wenn Selene das nicht selbst zu verantworten hatte. Sie öffnete den Mund, um es ihm zu erklären, ihm alles zu sagen. Aber da hob er auch schon eine Hand um sie zum Schweigen zu bringen.
„Ja oder Nein, Selene. Mehr will ich nicht wissen." So einfach war es aber nicht. Sie biss sich auf die Lippen und ließen ihren Tränen freien Lauf.
„Ich habe nicht die Macht Gefühle herbeizuzaubern, wenn du das meinst." Sagte sie und Ethan lächelte freudlos. „Die Meisterin der Doppeldeutigkeit. Dann stelle ich meine Frage anders: Wärst du nicht das was du bist, würde ich mich dann auch zu dir hingezogen fühlen?" fragte er und Selene wusste, das sie mit der Antwort auf die Frage alles zerstören würde. Sie wünschte sich ehrlich, sie müsste nicht den Kopf schütteln. Ihre Selbstzweifel kamen wieder an die Oberfläche, sie hatte ihr ganzes Leben mit Ablehnung zu tun gehabt und konnte sich nicht mal im Traum vorstellen, dass jemand sich ernsthaft für sich interessieren könnte. Nur für sie.
Sie sah ihn nicht an, als sie den Kopf schüttelte und auf ihre Füße starrte. Sie wollte den verletzten Ausdruck in seinem Gesicht nicht sehen. Aber sie hörte, wie er sich erhob, nach dem Glas auf den Schreibtisch griff und es gegen die Wand schmiss.
Das Scheppern seines Wutausbruches wurde von einem unheimlichen Schweigen begleitet, bevor er die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu donnerte und Selene nicht weiter tat, als sich die Ohren zuzuhalten. Als könnte sie sich damit vor dieser Stille schützen, die alles Glück, das sie kurz empfunden hatte, in sich aufsaugte wie ein schwarzes Loch.
Sie weinte. Erst Lautlos und dann immer herzzerreißender während sie sich auf den Boden sinken ließ und versuchte sich nicht von dem Schmerz auffressen zu lassen, sich einzureden sie würde Ethan nicht lange genug kennen um ernsthaft getroffen zu sein. Aber egal wie lange ihr Kennenlernen zurücklag oder wie weit ihre Beziehung gekommen war: Sie fühlte sich verlassen und ihr Herz lag in Trümmern.Beta: Geany :3
DU LIEST GERADE
Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1
Mystery / ThrillerSeit vier Jahren unterstützt Selene mit ihren Fähigkeiten unter dem Pseudonym Alice das FBI bei ihren Ermittlungen. Aber als eine Serie von grausamen Verbrechen ihre Heimatstadt in Angst und Schrecken versetzt, wird es persönlich. Selene muss einseh...