7. Kapitel - Ariana

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Das Erste, was er tat, war meiner Frage nach seinen Verbänden auszuweichen. Stattdessen führte er uns zum Tisch und bat mich, mich auf dem Stuhl ihm gegenüber niederzulassen. Dem kam ich selbstverständlich nach.

Auf seine Anfrage hin erzählte ich ihm, was oberflächlich in den letzten Jahren passiert war. Das ich in der Nachbarstadt Soziologie studierte, dort von Montags bis Freitags im Studentenheim lebte und das ich an den Wochenenden mit dem Zug nach Hause fuhr. Ich erzählte ihm das, was ich ihm von allem am Wenigsten mitteilen wollte. Er schien diese bestimmten Themen herauszögern zu wollen, auch wenn er ebenso wie ich wusste, dass die Zeit für dieses Gespräch gleich kommen würde.

"Und wie sieht es mit der Liebe aus?" Wollte er dies wirklich wissen oder spielte er mir seine Neugierde nur vor? Ich konnte es mir nicht vorstellen, denn er wirkte tatsächlich interessiert an meinem Leben. Lag es vielleicht an Nikita? Würde er es ihm übermitteln?

"Nichts Festes im Moment." Das die Kerle Schlange standen ließ ich aus. Es nervte. Mich und es würde jeden anderen ebenso nerven. "Und bei dir? Wo hast du Yumah gelassen?"

Plötzlich schien er angeschlagen, verkrampfte seine Arme in dem er sie ruckartig vor seiner Brust verschränkte und bekam innerhalb von Sekunden glasige Augen. Und bevor ich auch nur einen weiteren Atemzug wagen konnte, bahnten sich stumm Tränen über sein Gesicht.

"Er – Er ist", versagte seine Stimme kläglich.

Sein Zustand und die Reaktion schickten ganz böse Wellen in meine Richtung. Selten hatte ich meinen Bruder vor meinen eigenen Augen weinen gesehen. Er wirkte auf einmal zerbrechlich, wie ein Schmetterling, den man mit nur einer einzigen Berührung aus dem Flug reißen könnte.

"Es tut mir Leid, ich wusste ja nicht -", setzte ich an, doch unterbrach mich selbst. Es war dumm und ich ließ es damit einfach bleiben. Stattdessen sah ich die nächsten Minuten auf meine Hände, die ich unruhig auf dem Tisch knetete.

"Tut mir Leid", schniefte mein Gegenüber nach einer weiteren Minute der Stille. Er nahm sich ein Taschentuch aus der Packung vom Tisch und putzte sich die Nase. Dabei stellte ich fest, dass das Stück Cellulose beinahe die selbe Farbe, wie seine Haut hatte. Er war schon immer unheimlich bleich gewesen, aber man konnte es wohl steigern. Dazu die blauen Augenringe, die rissigen Lippen und die Verbände. Er sah ein bisschen wie ein Irrer aus, der aus einer Anstalt oder einem Krankenhaus entflohen ist.

War Yumah vielleicht – verstorben? Er sah so schlimm aus, nicht einmal Dads Tod hatte ihm einen solchen Zustand entlocken können.

"Hier, Lloyd." Mum war zu uns getreten und reichte ihm einen von seinen alten Pullovern. "Es hat zwar eine Weile gedauert, aber ich hoffe, dass das kein Problem war." Nachdem er sich den grauen Kapuzenpullover übergeworfen hatte, schüttelte er eilig den Kopf.

Das sah ihm ähnlich, möglichst wenig Umstände bereiten zu wollen. Und gerade in seinem jetzigen Zustand hätte es ihm wirklich Niemand in irgendeiner Weise übel genommen. Überhaupt nicht.

"Danke", hauchte er heiser und winkelte die Arme auf dem Tisch ab. Er senkte dabei den Kopf und fuhr sich mit den Händen über die nassen Wangen. Wahrscheinlich, weil er Mika hinter Mum erblickt hatte.

Diese klammerte sich an den Beinen Besagter fest und beäugte den für sie Unbekannten aus sicherer Entfernung im Schutz ihrer Großmutter.

"Oma, ist er das?", verlangte sie nach einer Zeit des Starrens zu wissen. Der Angesprochene sah langsam hinab zu der Kleinen, die weiterhin an Mums hellblauen Bluse zog.

"Ja, genau. Das ist Lloyd", bestätigte sie ihr lächelnd und fuhr ihr durch die Locken, sprach ihr damit Mut zu. Sie würde Überwindung brauchen, um zu meinem Bruder herüberzulaufen und sich vorzustellen, doch dieser schien bereits genaustens zu wissen, wen er da vor sich hatte.

LloydWo Geschichten leben. Entdecke jetzt