23. Kapitel - Yumah

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In Momenten, wie diesem, musste ich davon absehen, ob mir mein Vater eine Lüge oder doch die Wahrheit auftischte, denn tief in meinem Inneren riefen die Wolfsgene meinen Jagdtrieb wach. So kam es, dass ich zusammen mit einer Hand voll anderer Wölfe am Fuße des Felsens auf die Ankunft des Alphas wartete.

Lloyd war mit mir hergekommen, jedoch würde er der Jagd nicht beiwohnen, da er noch viel zu erschöpft von den letzten Tagen, einschließlich der vergangenen Nacht, war. Immer noch sah er müde aus, dies erkannte sogar ich mühelos in meiner Wolfsform. Es war kaum zu übersehen, wie wacklig er auf den Beinen war.

Wir hatten nicht über die Situation dieses Rudels gesprochen, gleichermaßen nicht über meinen Vater. Meine bessere Hälfte wusste sehr wohl, dass es sich um diesen handelte, dafür brauchte er keine direkte Bestätigung, jedoch würde ihn die aktuelle Lage nur zu stark belasten, wie ich annahm. Deshalb hielt ich es für das Beste, ihn vorerst darüber im Unklaren zu lassen. Am Ende bereitete ihm fast jeder Umstand, jede noch so kleine Kleinigkeit Unbehagen und er würde sich verantwortlich fühlen, die Probleme lösen zu müssen.

Wieder merkte ich, dass wir Beiden uns gar nicht allzu sehr voneinander unterschieden, wenn es um dieses Verhalten ging. Auch ich wollte die Probleme lösen – die Probleme eines Rudels, das ich seit knapp einer Nacht und einem Rundgang der Sonne kannte und mit dem ich, bis auf der Verwandschaft zu meinem Vater und seiner neuen Familie, keinerlei Verbindung aufzuweisen hatte.

Lloyd und ich – wir waren zwei Idioten, ganz einfach. Wobei ich vermutlich der Größere war, da ich ihm nicht einmal einweihte in Dinge, die ihn selbst betreffen würden. Er hing schließlich genauso wie ich in der Sache drin, unausweichlich.

Mit einer etlichen Verspätung tauchte schließlich der Alpha über uns auf dem Felsvorsprung auf. Sein Fell brannte mit dem untergehenden Rot der Sonne, glimmte und es schien, als würde er selbst es sein, der seinen letzten Rundgang vornahm, ehe er von der Dunkelheit verschluckt werden würde.

Sein markerschütterndes Heulen füllte kurz darauf unsere Ohren. Es war kein Aufruf zum Kampf, doch alle Wölfe folgten ihm. Jeder von ihnen stimmte mit ein, auch Lloyd und ich nach einer Minute der Verwirrung.

Es war ein Totengesang. Für wen, ahnte ich bereits. Das Gespräch gestern hatte deutlichen Ausschluss über die Situation gegeben. Allerdings hatte ich erwartet, dass auch die Luna ihrem verstorbenen Sohn die letzte Ehre erweisen und anwesend sein würde. Dies war zum Einen sehr ungewöhnlich und deshalb zum Anderen beunruhigend, wenn man mich danach fragen würde.

Ich hatte kein Zeitgefühl dafür, wie lange wir für ihn geheult hatten, aber irgendwann stoppten wir und der Alpha trat vom Felsen herunter zu mir und meinem Gefährten. Er senkte den Kopf, nachdem er vor mir gehalten hatte und nachdem wir unsere beider Köpfe kurz beinahe zusammengesteckt hätten, verschwand er zurück hinter den Vorsprung.

Es war ein klares Zeichen gewesen. Ich hatte die Führung des gesamten Jagdtrupps anvertraut bekommen und alle Wölfe des Rudels hatten es mit angesehen. Ein solcher Schritt – gerade von einer Wenigkeit wie meinem Vater – bedeutete Unheil und einen großen Verlust.

Vielleicht war noch mehr geschehen, als wir es uns bisher ausmalen konnten. Sehr viel mehr. Und es war leider sogar sehr wahrscheinlich.

Dennoch gab ich mich nicht länger diesen Gedanken hin, sondern drehte mich zu den Wölfen an meinen Seiten und in meinem Rücken, damit ich ihre Aufmerksamkeit ergatterte. Durch ein kurzes Aufheulen gab ich ihnen das Signal zum Aufbruch, dem sie gehorsam und ohne Widerworte Folge leisteten.

Kurz verabschiedete ich mich von Lloyd, dann sprintete ich in den Wald, um die Führung vorne an der Spitze der Gruppe zu übernehmen. Etwas in mir reagierte auf die vielen Einflüsse, die auf mich niederprasselten, wie der ästhetische Regen in einer Sommernacht.

Der Wald zog mich an. Der Wind bestärkte jeden meiner Schritte, auch wenn er nur sehr seicht zu spüren war. Meine Instinkte liefen auf Hochtouren, nahmen vollkommen andere Formen an. Kurzum, es fühlte sich gut an. Ich fühlte mich besser denn je, lange hatte ich nicht mehr dieses Gefühl gehabt.

Das Gefühl, ein Anführer - ein Alpha - zu sein.

Durch meine Navigation zwischen den Bäumen hindurch, gewannen wir an Geschwindigkeit. Die nun in Dunkelheit getauchte Umgebung verbarg unsere Schemen und ließ uns zu eintönigen Schatten werden, die mit ihrem Umfeld verschmelzen konnten, wenn sie die Augen schlossen und ruhten.

Gehorsam liefen sie alle hinter mir her, vertrauten mir schier blind, obwohl sie mich nicht kannten. In diesem Moment war ich der Höchstgestellte in ihren Reihen. Zu meinen Seiten und im Rücken hatte ich mehr als zwei Hände an Wölfen laufen, die jeder Zeit nur auf meinen Befehl warteten.

Angestrengt suchte ich nach Beute, nach einer Duftspur, doch es kam lange kein Wild, weder ein Hirsch, noch ein kleiner Hase, in unsere Reichweite.

War dies das Problem, das mein Vater angesprochen hatte? Nicht nur, dass die Menschen ihnen ihr Revier, ihre Heimat, entwendet hatten, sie hatten ihnen auch ihre Jagdgründe genommen, die sie am Leben hielten.

Die jetzige Bleibe am Felsvorsprung lag viel zu weit entfernt von Tierständen und einem Fluss, um Wasser zu sich nehmen zu können. Sie mussten sicherlich häufig hungern, gerade wenn man auf ihre Ausbeute vom gestrigen Abend zurückdachte. Es war ein Tier für ein ganzes Rudel gewesen und es hätte theoretisch nicht einmal für die jagenden Wölfe reichen dürfen, Wölfinnen und die jungen, unerfahrenen Wölfe ausgeschlossen.

Sie brauchten meine Hilfe viel dringender, als ich zuerst angenommen hatte. Es war unfassbar schrecklich, was sie durchmachen mussten. Ich konnte alles, aber nicht über ihre Not hinwegsehen.

Wir liefen weiter, brachten eine beachtliche Distanz zwischen uns und der Heimat des Rudels, als ich Eindringlinge bemerkte. Ihre Fährten überschlugen sich, es waren mehrere von ihnen, die sich uns näherten. Und es waren keine Wölfe.

Rasch warnte ich die anderen Mitglieder unseres Jagdtrupps, doch meine Warnung kam zu spät. Sie preschten noch an mir vorbei, direkt in die Fänge von Wölfen. Den Eindringlingen, den Wolfsmenschen, die nun zu unseres Gleichen geworden waren.

Es entstand ein Kampf, noch bevor ich es überhaupt richtig realisieren konnte.

Die Mitglieder des Rudels meines Vaters, die Seelen, die mir anvertraut worden waren, waren in Gefahr geraten – und es stand in meiner Verantwortung, sie zu beschützen.

Deshalb zögerte ich nicht lange und unterstützte sie in ihrem Kampf. Die Anzahl der Gegner war schwer einzuschätzen, allerdings waren es nicht mehr als wir, vielleicht Sechs.

Als ich endlich nah genug an sie herangetreten war, da blieb mein Herz stehen für eine winzige Sekunde. Nein, bitte nicht, dachte ich. Bitte nicht.

Ein Heulen verließ meine Kehle, so rau und hektisch, dass zumindest alle Mitglieder auf meiner Seite sich regten und dem Kampf aus dem Weg zu gehen versuchten, wenn es ihnen möglich war. Sie zogen sich zurück und die Anderen hatten inne gehalten, als ich wohl endlich nahe genug vor ihnen zum Stehen kam.

Das war alles nur ein großes Missverständnis, ein kleiner Unfall. Zumindest dachte ich dies, bis ich mit Schrecken feststellen musste, dass es nicht dabei bleiben würde. Es war keine kleine Angelegenheit, die wir hinter uns lassen konnten. Nicht bei all dem Blut und den Verletzungen. Nicht, wenn es Tote zu beklagen gab. Auf beiden Seiten.

Ich hatte es zu spät wahrgenommen, aber der nun beißende Geruch des roten Blutes auf dem Waldboden und in unseren Gesichtern, schickte eine deutliche Welle zu mir herunter. Es brannte wie Feuer, das ich zuvor nur während der Abenddämmerung in den Augen meines Vaters gesehen hatte. Ein Feuer, der Wehmut und des Verlustes.

Mein Heulen, das ich inzwischen zum zweiten Mal angestimmt hatte, verstummte und ich trat den bekannten Wölfen entgegen. Ihre Gesichter waren mir nicht fremd, aber zuordnen könnte ich sie nicht ohne Weiteres. Nur ihre Fährte wies sie ganz klar zum Rudel von Lloyd zu.

Ich fühlte mich übel, als würde sich mein leerer Magen ein weiteres Mal umdrehen, jedoch nicht vor Hunger, sondern aus einer ganz anderen Empfindung heraus. Reue war es, die meine Sinne benetzte und mich schier betäubte.

Wie hatte es nur so weit kommen können? Wieso hatte es geschehen müssen?

Ich neigte dem augenscheinlichen Anführer der Gruppe den Kopf. Der dunkelbraune Wolf tat es mir gleich, ehe er alle Anwesenden darum bat, sich wieder in Menschen zu verwandeln. Alle folgten seinen Anweisungen, ohne Widerworte.

Mir fehlten die Worte, als ich genau verstand, wen ich da vor mir hatte. Unter anderem die jüngere Schwester meines Gefährten, die sich mit einer Fleischwunde am Arm an einen dunkelhäutigen Mann lehnte. Er führte sie zur Seite an der ihre Vorräte und Taschen zu stehen schienen, um sie zu versorgen, ebenso wie einen mageren Jüngling mit roten Haaren.

Einer von ihnen blieb jedoch ein Wolf und würde es auf ewig bleiben. Ich sah ihn zwischen dem Geäst und den abgestorbenen Blättern der Bäume liegen. Er würde nun eins mit ihnen werden.

Darius und Erik, der Gefährte von Lloyds älteren Schwester, liefen zu ihm herüber. Außerdem war da noch ein trainierter Mann mit kurzen pechschwarzen Stoppeln auf dem Kopf, der sich erschöpft an einen der Baumriesen warf und krampfhaft versuchte, seinen Atem zu regulieren.

Aus meiner Gruppe fanden sich alle Wölfe um die zwei Todesopfer ein, die dieser Kampf auf unserer – oder wohl eher ihrer – Seite gefordert hatte. Es war ein älterer weißer Wolf und ein mittelalter Grauer, den wir mit unserem Heulen verabschiedeten.

Dies taten wir so lange, bis sich ihre Körper auflösten und sie beide ihren Weg zu unseren Ahnen angetreten hatten. Sie waren frei, erlöst von ihrer Pflicht hier auf Erden. Nichts band sie mehr an dieses Reich. Außer den Lebenden, die sie in ihren tiefsten Träumen besuchen konnten, zumindest nach alten Legenden, die man sich in meinem Volk seit jeher erzählte.

Jedoch verschwand der Wolf am anderen Ende der Lichtung nicht, sondern blieb materialisiert und ohne Seele zurück. Es war ein deutlich in die Jahre gekommener hellbrauner Wolf mit dünnem Fell. Seine Fährte stimmte beim näheren Herantreten tatsächlich mit der eines anderen hier Anwesenden fast nahtlos überein. Und diese Tatsache versetzte mir einen weiteren Stich ins Herz.

Ich hatte das Blutvergießen nicht verhindern können. Ich hatte sie nicht retten können, hatte sie nicht beschützt.

Jetzt realisierte ich erst die Tränen in den Augen des Gammas, der sich über den Verstorbenen beugte und sein Gesicht sanft entlang strich.

 Spätestens da verstand ich, dass dieser Verlust auch tiefe Spuren bei Lloyd hinterlassen würde.

LloydWo Geschichten leben. Entdecke jetzt