Prolog - Wo ich herkomme

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Der junge Wolf folgte einer pechschwarzen Wölfin, die sich liebevoll an seine Seite schmiegte, als sie gleichzeitig inne hielten.

Mit ihrer Schnauze fuhr sie sanft über die Stirn und die Ohren ihres Kindes. Es war ihr einziger Sohn, der nicht durch das Rad der Zeit aus ihrem Leben gewichen war.

Ihre beiden Ältesten waren bereits mit ihren toten Ahnen vom Winde verweht worden. Nichts zeugte mehr von ihrem Verbleib oder ihrer Lebenszeit auf dieser Erde.

Lediglich die Erinnerung der beiden Wölfe auf der Lichtung waren Beweis dafür, dass sie gelebt hatten. Und diese Erinnerungen würden sie ewig, bis zu ihrem eigenem Tod, begleiten. Somit wären die Verstorbenen immer ein Teil von ihnen, würden niemals wahrlich vergessen werden. Zumindest nicht, bis sie wieder zusammengeführt werden würden.

Leider wusste sie, dass auch ihre Zeit bald kommen würde. Sie hörte bereits die Stimmen der Geister, der Toten, die liebevoll nach ihr riefen und melancholische Lieder anstimmten. Sie gab sich ihnen noch nicht hin – würde es jedoch bald aufgeben, sich ihnen zu widersetzen und willig ihre Einladung annehmen.

Zuletzt müsste sie jedoch ihrem geliebten Sohn den Weg ebenen, ihm Mut zureden und sich, allen voran, von ihm verabschieden. Bevor sie ihren ersten Sohn und ihre Tochter wiedersehen würde.

Erneut fuhr sie über sein Ohr, ehe sie bei seinem Nacken verblieb und diesen kurz leckte.

Der Jüngere fiepte genüsslich, wie ein Welpe, obwohl er bereits ausgewachsen war. Er zeigte sich ihr gegenüber offen und wenn sie seine kindische Seite hervorbrachte, dann erlaubte er es ihr, sie zu sehen. Voreinander hatten die Beiden nie etwas versteckt, mussten niemals Geheimnisse oder Lügen zwischen sich bringen. Sie waren nicht nötig, weder für sie, noch für ihren Schützling.

Deshalb schien sie ihm auch – während sie sich lange und tief in die selben gelben Augen blickten – still zu erzählen, dass sie bald fortgehen würde. An einen anderen, weit entfernten Ort. Dort hin, wo sie ihn nicht mehr begleiten oder gar mitnehmen konnte.

Doch er verstand ihre ehrliche Absicht und die liebevolle Verabschiedung, drückte sich fest an ihr schwarzes, kurzes Fell und gab ihr somit sein stilles Einverständnis.

Erleichtert kuschelte auch sie sich an die hohen Schultern ihres Sohnes.

Sehr lange verblieben sie in diesem innigen Moment. Keiner der Beiden rührte sich, stattdessen genossen sie die Nähe des Anderen, ein letztes Mal.

Dann löste sie sich schwerfällig von ihrem Kind. Sie schenkte ihm einen tiefen Blick voller Stolz und Liebe, in ihrer reinsten Form, wie ihn nur eine Mutter empfinden konnte.

Kurz darauf erwiederte er den Kontakt, drehte sich wenige Sekunden später in die Richtung des Waldes, die ihn in ein Reich, fernab seiner Heimat, führen würde.

Sein leuchtendes, gelb-braunes Fell, stach zwischen den braunen und grünen Tönen der Pflanzen und dem grauen Gestein, welches aus dem Boden emporragte, hervor.

Er rannte und rannte, sprang geschwind über die Wurzeln der Baumriesen und schaute kein einziges Mal zurück.

Und seine schwindende Kontur war das Letzte, was ihre müden Augen erblickten, denn als sie dieses Mal zufielen, war ihr bewusst, dass sie sich nie wieder öffnen würden.

Sie spürte, wie sich ihr Körper nach und nach von seiner festen Form löste. Sie langsam zu Staub zerfiel, um daraufhin, wie ihre verstorbenen Liebsten und Ahnen, vom Winde davongetragen zu werden. Um ein Teil von ihnen zu werden.


LloydWo Geschichten leben. Entdecke jetzt