30. Kapitel - Ariana

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Es waren inzwischen Tage vergangen, aber Lloyd schien keinerlei Anstalten zu machen, aufzuwachen. Wir hatten es – mit einigen Komplikationen - zurück geschafft in die Heimat. Wenige Minuten vor unserer Ankunft hatte mein Bruder aufgehört zu Atmen und sein Herz erneut aufgegeben. Wahrscheinlich wäre Lloyd nicht mehr hier, wenn Zion nicht besonders gut im Erste-Hilfe-Kurs aufgepasst und Darius nicht seinen Führerschein riskiert hätte.

„Daran sollte ich nicht denken", murmelte ich kopfschüttelnd. Meine Gedanken waren wieder in eine falsche Richtung gedriftet, deshalb musste ich ihnen Einhalt gebieten.

Die Erinnerung an die letzten Tage und Nächte wog schwer, wie ein endloses Gewicht drückte es auf mein Gemüt. Wenn es nicht Menschen gäbe, die es noch härter traf, als mich, hätte ich wohl den Verstand verloren und wäre abgetaucht. Allerdings hatte mich der Anblick meiner Mutter dazu veranlasst, ihr eine Stütze zu sein und mich zusammenzunehmen. Wahrscheinlich war sie unbewusst meine Rettung gewesen, auch wenn es schrecklich klang.

Ich schulterte meine Geige und begann zu spielen. Bald darauf erklang eine ruhige, friedliche Melodie, die den Raum in sekundenschnelle durchflutete, jeden einzelnen Winkel und jede Ecke. Das Spiel nahm mich gefangen und zerrte mich in eine andere Welt. Für einen kurzen Moment war alles Schlechte verdrängt und die Welt wieder heil.

Es endete mit einem Lächeln meinerseits und einem Klatschen hinter mir. Ertappt drehte ich mich um, während ich meine Arme senkte und das Instrument zurück in dessen Schutzhülle legte.

„Wie lange stehst du schon da?", fragte ich ihn mit einem schwachen Lächeln. Seine Reaktion hatte mich viel zu abrupt in die Realität zurückgebracht. Der Boden der Tatsachen war wieder viel zu schnell erreicht worden.

„Nicht lange genug, ich habe nicht alles vom Lied mitbekommen", brummte er etwas enttäuscht, ehe er den Kopf schüttelte und zu mir ans Bett trat. Wir sahen einander an, dann unseren Bruder, der in den weißen Betttüchern unterging. Es war nicht untertrieben, zu behaupten, denn er war so bleich, das er dem perlweißen Stoff durchaus Konkurrenz machen konnte. „Du spielst jeden Tag für ihn, oder?"

„Es lenkt ab – und er hat es immer gemocht, wenn ich für ihn gespielt habe", lenkte ich zu einem Gespräch ein, auch wenn mir eigentlich nicht danach war. „Genauso, wie du."

„Lloyd hat es noch mehr genossen und zu schätzen gewusst, als ich, glaube ich. Er war damals bei jedem deiner Auftritte dabei, hat nicht einen von ihnen verpasst. Er war schon immer dein größter Fan, schätze ich." Es stimmte. Bis er plötzlich in einer Nacht verschwand und wir ihn über zwei Jahre nicht zu Gesicht bekamen, war er bei jedem meiner Konzerte im Orchester anwesend. Weder die Schule, noch Krankheit und schon gar nicht Mum, hatten ihn davon abhalten können.

„Wahrscheinlich", gab ich schmunzelnd zurück, in Erinnerung an diese unbeschwerte Zeit meines Lebens. Es war so unendlich viel geschehen seitdem.

„Warum ich eigentlich hier bin", begann Akio zögerlich, „hier, lies es einfach selbst." Anbei reichte er mir einen Zeitungsartikel, den er scheinbar gefunden hatte. Das graue Papier war gefaltet, sodass es Ausschau auf nur einen einzelnen Artikel gab, den er wohl meinte.

Allein die Überschrift des Fließtextes sorgte dafür, dass mir übel wurde. Drei Verletzte und ein Toter nach Wolfsangriff nahe der Baustelle des geplanten Einkaufszentrums.

Scheiße. Es kamen unendlich viele Emotionen in mir hoch, sodass ich die einzelne Seite senkte und stumm zu Akio blickte, der wiederum verständnisvoll nickte. Dann verfielen wir einem langen Schweigen, sahen im Raum umher oder starrten den Schlafenden im Bett vor uns an.

„Meinst du, er kann mir vergeben? Eines Tages?", murmelte mein Nebenmann irgendwann unsicher. „Ich habe damals echt Mist gebaut."

„Was ist eigentlich genau vorgefallen? Ungefähr habe ich es ja verstanden, aber so wirklich schlau bin ich noch nicht daraus geworden." Da Akio dieses Thema von selbst anschnitt, fühlte ich mich nicht schlecht, danach zu fragen. Sonst hätte ich es totgeschwiegen.

„Der Rat wollte damals Informationen über Yumah, weil sie ihn nutzen wollten, um an sein Rudel zu gelangen. Jedenfalls – Dad hat mich an einem Abend abgefangen, als Lloyd und Yumah nicht zugegen waren. Er wollte Vieles wissen – und ich habe es ihm Alles erzählt, was ich wusste. Und warum? Weil ich Idiot Anerkennung von ihm wollte. Weil ich zornig auf Lloyd war für das, was er erreichte. Und dann wurde er der Delta, bekam den Posten, den ich mir schon mein ganzes Leben lang wünschte – auf den ich meine ganze Existenz hingearbeitet hatte, der mir aber in meinen Augen auf Ewig verwehrt bleiben würde. Ich war so eifersüchtig auf meinen kleinen Bruder und so naiv, dass ich ihn verriet. Ich bin ihm ein richtig beschissener Bruder gewesen, ehrlich. Und jetzt bin ich auch noch der Delta des Rudels. Es scheint alles so unverdient, was ich heute bin."

LloydWo Geschichten leben. Entdecke jetzt