9. Kapitel - Yumah

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Wie sehr sich der Wunsch in mir staute, die letzten Stunden ungeschehen zu machen, konnte ich letztendlich nicht mehr in einer Angabe benennen. Immer wieder setzten sich vor meinem inneren Auge die Sequenzen der Kontrolllosigkeit zusammen.

Bruchhaft. In einem Ruck. Zitternd. Sie flogen vorbei. Schemenhaft. Dann unendlich klar, sodass ich erschauderte, fiepte und heulte über meine eigene Dummheit.

Wie ich auf ihn los ging, meine Klauen in seinem Rücken versenkte. Ihn niederdrückte auf den Asphalt, auf dem er schier aufschlug und noch einige Zentimeter rutschte. Sich die Handflächen aufrieb, um den Sturz abzufangen und seinen Körper zu bremsen.

Mein Eigener baute sich über ihm auf, pinnte ihn zu Boden und gleichzeitig drohte er, ihm die Kehle zu zerfetzen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich Bilder in meinem Kopf gesponnen, wie ich die Bänder herausriss und mir das Blut entgegenspritzte.

Jetzt stellten sich aus Ekel und Angst vor mir selbst meine Nackenhaare auf. Nicht einmal ich selbst konnte mich noch ertragen.

Lloyd könnte mir sicher niemals vergeben. Wenn er sich überhaupt noch in meine Nähe traute, nach diesem brutalen, hinterhältigen Angriff.

Zum Glück hatte mich eine rotbraune Wölfin mit abstehendem Fell, von ihm gerissen und schließlich, nach einem doch recht einseitigen Kampf, in dieser Hütte eingesperrt. Ich war seiner Mutter so dankbar, dass ich auf der Stelle vor ihr auf die Knie gegangen wäre. All mein Dank würde sie jedoch nicht erreichen, wie ich kurz darauf bemerkt hatte, als ich ihre drohenden und verbissenen Worte hörte.

Selbstverständlich war sie wütend, denn ich hatte ihren Sohn verletzt und nicht, wie versprochen, auf ihn aufgepasst. Wahrscheinlich war ich derzeit seine wohl größte Gefahr. Nein, ich war es ausnahmslos.

Und weil mich mein Schicksal wohl vor eine unausgesprochene Probe stellen wollte,war ich direkt nach dem Zuschlagen der Holztür aus meinem Wahn erwacht.

"Was ist in dich gefahren?" Ich wusste nicht, was mit mir nicht stimmte.

"Wieso tust du so etwas?" Ich wusste es wirklich nicht.

"Warum gerade Lloyd?" Ich konnte darüber nicht entscheiden, denn sonst würde ich mich an seiner Stelle lieber selbst verletzen.

Dann war sie wohl zu meinem Gefährten verschwunden, um ihm zur Hilfe zu eilen, während ich mich betrübt in eine der Ecken verkrochen hatte. Wie so oft in den letzten Minuten fühlte ich mich elendig, wie ein wildes Tier. War ich denn etwas anderes?

Darüber war ich mir schon gar nicht mehr sicher. Jedes nennbare Kriterium eines Monsters erfüllte ich doch ausnahmslos.

Andere litten. Hatten Angst vor mir. Verhassten mich. Wollten mich bestimmt am Liebsten tot sehen. Nichts als Verständnislosigkeit, auch von mir selbst.

Wurde ich missverstanden? Konnte man mich verstehen? Hatte ich noch eigene Gedanken oder waren diese Taten meine wahren Gedanken? War dieses Werk die Blüte meiner Persönlichkeit? War das wirklich Ich?

Wer war ich? Ein Wolf? Ein Mensch? War ich beides zu gleichen Teilen? Oder doch nicht? War ich am Ende nichts weiter als ein Tier, das den sehnsüchtigen Wunsch nach einem Selbst besessen hatte? War ich eine Laune der Natur? Ein Missgeschick, ohne ein Anrecht auf ein eigenes Bewusstsein?

Als mein Kopf zu schmerzen begann, senkte ich diesen hinab zu meinen Pfoten und wog ihn über dem hölzernen Boden der Holzkiste.

Ich musste mich zusammenreißen. Für Lloyd. Für mich. Für das Wohlergehen aller.

Kontrollieren, du musst es kontrollieren. Kontrolle. Kontrolliere es.

Wie ein Mantra wiederholte ich immer wieder diese selbst auferlegten Befehle in meinem Kopf. Wieder und wieder, bis ich vor Erschöpfung in einen traumlosen Schlaf fiel.

LloydWo Geschichten leben. Entdecke jetzt