"Scheiße, es wird alles gut, okay?", sprach Zion zum wiederholten Male auf mich ein, während er den frisch angelegten Verband erneut inspizierte. Doch egal, wie oft er ihn sich auch ansehen würde, er würde keinen Makel finden. Vermutlich war er einfach genauso durch den Wind wie ich und suchte eine Beschäftigung.
"Er ist tot", hauchte ich ihm entgegen und hielt die Tränen zurück. Ich konnte nicht fassen, dass Jemand aus unserem Rudel gerade bei dieser Auseinandersetzung und in dieser kurzen Zeitspanne gestorben war. Niemand von uns hatte überhaupt die Möglichkeit gehabt, ihm zur Hilfe zu eilen. Es war so schnell geschehen, dass es mir noch jetzt einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte.
"Es ist nicht deine Schuld, in Ordnung? Es ist einfach passiert, wir konnten Nichts tun." War es das? Konnten wir schlussendlich Nichts tun? Auch jetzt nicht? Mussten wir nicht zumindest Erik beistehen? Er gehörte zu meiner Familie und nicht nur er. Sam ebenfalls.
Er war gerade erst von seinem Fischerausflug mit den Zwillingen zurück und dann starb er nun sofort bei seiner ersten, eher spontan entschiedenen Mission? Wieso hatte Jonas ihn mit uns geschickt? Hätte er es nicht getan, würde er dann vielleicht noch leben?
Samuel war nicht nur Eriks Vater, sondern ebenso Mika's Großvater und Feli's Ehemann. Auch für mich war er in den letzten Jahren, gerade nach Dads Tod, so etwas wie mein Großvater geworden. Und jetzt sollte er einfach fort sein?"Wo ist Yumah?" Ruckartig richtete ich mich auf und riss mich aus seinem schwachen Griff um meine Schulter frei, um mich auf die Suche nachdem Gefährten meines Bruders zu begeben. Ich war mir so verdammt sicher, dass er der Anführer dieses Wolfspacks war und er sie dazu angetrieben hatte, inne zu halten. Es musste einfach Yumah gewesen sein.
Zion hatte ich geglaubt, längst hinter mir gelassen zuhaben, doch er folgte mir eilig, damit er mir helfen oder mich beobachten konnte, ich kannte seinen genauen Hintergrund nicht. Vielleicht bereiteten ihm meine Aktionen auch einfach nur Sorgen? Vielleicht sollte ich mir darüber Gedanken machen, was mit mir los war?
"Yumah!", rief ich vorsichtig, als ich den Bereich unseres Rudels verließ und mich in das fremde Terrar auf der anderen Seite begab, Zion etwas entfernt, aber dennoch an meiner Seite.
Keine drei Sekunden vergingen, da sah ich ihn bereits auf uns zulaufen. Sein Fell war wild zerzaust und seinen Schweif hielt er tief gesenkt, wenn man bedachte, dass er der Anführer war, ein doch sehr merkwürdiges Verhalten. Man lief in einer solchen Haltung nur herum, wenn man unter der Führung eines Höheren stand oder in seiner Nähe war. Doch ich war mir ziemlich sicher, dass Yumah den Führungsposten einnahm, absolut sicher.
Mit einem kleinen Abstand stoppte er vor uns, sah uns aus gelben Augen an und schien endlos betrübt. Hinter ihm drehten sich einige Wölfe aus der kleinen Versammlung um. In der Mitte hätten die Toten liegen müssen, doch dies taten sie nicht. Oder nicht mehr? Ich hatte gedacht, dass ich sie an jener Stelle zuvor noch erblickt hatte.
Sofort kniete ich mich vor ihm nieder und schloss ihn in meine Arme. Seine Schnauze wog sich auf der Schulter meines verwundeten Armes. Er wimmerte leise und sein Herz raste in seinem Körper, erbebte immer und immer wieder, durchzuckte praktisch im Takt sein Inneres.
Beruhigend strich ich über seinen Nacken, immer und immer zu, hielt nicht allzu schnell inne, sondern ließ uns diesen Moment der Ruhe.
"Es tut mir Leid, dass jetzt fragen zu müssen, aber – wo ist mein Bruder? Kannst du mich zu ihm bringen?"
Er erstarrte in meinen Armen zu einer Eisskulptur, als er meine Worte vernahm. Offensichtlich verstand er sie und ihre Bedeutung, da war ich eindeutig beruhigt. Wenn er mich nicht verstehen könnte, hätte es eine gewaltige Barriere zwischen uns erschaffen.
Kurz schien er hin und her gerissen. Warum war er mit diesen Wölfen unterwegs gewesen? Waren sie auf der Jagd?
"Sucht ihr etwa nach Wild?" Widerwillig löste er sich aus meiner Umarmung, damit er mich aus großen, wachen Augen beobachten konnte. "Wir haben Nahrung, Fleisch, dabei. Wir können sie mit euch teilen. Du musst mich nur bitte zu Lloyd bringen, ja?" Wir hatten heute Mittag, vor unserer Ankunft in diesem Teil des Waldes, gejagt und eines von ihnen im Geländewagen von Zion untergebracht. Das andere Reh hatten wir zusammen mit dem Hasen in das blaue Gefährt von Darius verfrachtet.
"Lass mich das schnell mit den Anderen besprechen, okay? Ich bin gleich zurück." Aufgeregt entfernte ich mich von Yumah, mein Herz hämmerte in meinem Brustkorb, als wäre ich auf der Flucht. Irgendwie war ich nervös, es war einfach zu viel passiert in den letzten Stunden und noch dazu hatten wir gerade eine brandheiße Spur zum Aufenthalt meines Bruders, unserem Ziel, bekommen.
"Darius?" Als unangebracht hatte ich eine meiner Aktionen noch nie empfunden, doch in diesem Augenblick hätte ich lieber geschwiegen. Allerdings ließ dies die Situation nicht zu. "Können wir reden?"
Der Beta stand bei Erik und Samuel, dessen leere Augen sie inzwischen geschlossen hatten. Es sah tatsächlich so aus, als würde er schlafen, würde die Lache aus Blut und die klaffende Wunde an seinem Hals nicht von einer anderen Geschichte erzählen.
Der Langhaarige erhob sich, tätschelte noch ein letztes Mal die Schulter des Gammas, ehe er mit mir und Zion etwas fernab vom Geschehen inne hielt.
"Also, worum geht es?", fragte er zögerlich, nachdem er zuvor einen tiefen Atemzug genommen hatte. Da er der Ranghöchste unter uns war, würde er Jonas den Todesfall berichten müssen. Wobei ich ihn dabei unterstützen würde, wenn er es denn zulassen würde. Leider kannte ich Darius und in dieser Hinsicht wollte er Niemandem diese schwere Bürde auferlegen. Nach so geringer Zeit über die Person und über den Tathergang zu sprechen war eine unschöne Angelegenheit, die ebenso zugleich tiefe Wunden hinterließ.
Der Mann vor mir wollte schon immer die Anzahl der Opfer möglichst gering halten. Auch wenn dies bedeutete, dass er sich selbst opferte und sich selbst die Schmerzen auferlegte.
"Yumah kann uns zu Lloyd führen", fiel ich praktisch mit der Tür ins Haus. "Sie waren auf der Jagd, deshalb haben sie uns vielleicht auch angegriffen – auf jeden Fall könnten wir ihnen doch etwas von unserer Ausbeute heute Mittag abgeben? Yumah würde uns dann bestimmt zu Lloyd führen. Denn wenn die Wölfe versorgt sind, dann kehren sie zu ihrer Heimat zurück. Und ich gehe jede Wette ein, dass Lloyd dort auf ihn wartet."
Denn wenn mein Bruder nicht an der Seite seines Gefährten verweilte, dann würde zumindest Yumah zu ihm zurückkehren. Sie mussten einen Treffpunkt ausgemacht haben. Yumah hatte Lloyd hier Draußen sicher nicht aus den Augen gelassen, dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen.
"Ariana, wir – ich weiß nicht", er unterbrach sich selbst, weil ihm die nächsten Worte wohl sehr mitrissen. "Wir haben einen Toten zu bergen und zurückzubringen. Jonas würde es sicher nicht gefallen, wenn wir nicht zurückkehren in einem solchen Fall."
"Ich habe ihn auch sehr lieb gehabt, Sam war so etwas wie ein Großvater für mich." Mir traten Tränen in die Augen, während ich diese Worte aussprechen musste, die zuvor bereits als tobender Sturm in meinem Inneren gewütet hatten. Davon zu sprechen, war das Gleiche, als würde ich die Emotionen herauslassen, als würde der Sturm Reißaus nehmen. "Aber wenn wir diese Mission nicht zu Ende führen, dann war alles umsonst. Dann wäre er umsonst gestorben, Darius.""Ariana hat recht." Ich war überrascht, dass es nicht Zion war, der Partei für mich ergriff, sondern eine weitere Person zu meiner Seite. "Wir müssen an unsere Mission denken." Es waren diese wenigen Worte und seine doch kraftvolle Stimme, die mich mitrissen und meinen Tränen Einhalt geboten.
"Erik", wollte Darius einschreiten, doch er wurde durch jenen Angesprochenen selbst unterbrochen: "Wir müssen die Mission zu Ende führen. Nicht nur für das Rudel und nicht nur für eines unserer Mitglieder, sondern auch für meinen Vater. Das ist es, was jetzt zählt, alles andere hat später Zeit." Das er solch einen klaren Kopf fassen konnte, brachte mich fast zum Durchdrehen.
"Wir können ihn auf die Rücksitze meines Wagens legen, bis wir wieder zurück sind", schlug Zion in ruhigem Ton vor und brachte sich endlich ins Gespräch ein.
"Nein, ich möchte bitte, dass er in meinem Wagen unterkommt", bat der Beta und bekam die ungeteilte Aufmerksamkeit. "Ich erkläre euch wann anders, warum, aber es hat einen triftigen Grund, glaubt mir bitte."
Keiner hatte Einwände gegenüber diesem Wunsch und zusammen brachten Zion, Darius und Erik den leblosen Körper unseres Kameraden hinüber in den Wagen, um ihm dort vorzeitig einen Ort zu verschaffen, an dem er ruhen konnte.
Ich würde über mein bisheriges Leben behaupten können, dass dies der Moment war, an dem ich mich seit je her am stärksten bemitleidet gefühlt hatte. Erik, der gerade seinen Vater verloren hatte, musste mich beschützen und gegenüber dem Beta meine Meinung vertreten. Dabei wäre es allein meine Aufgabe gewesen, ihn von ihrer Wichtigkeit zu überzeugen, nicht seine.Er war so stark; und ich war es nicht einmal jetzt. Ich war immer noch ein kleines Mädchen, das heulte. Doch zugleich wusste ich, dass ich nicht anders konnte. Zu weinen war keine Schwäche; Nicht zu weinen war keine Stärke.
Es war viel mehr dieser Funke, den ich in Eriks Augen gelesen hatte, der mich deprimierte. Dieser Schmerz, der ihn nicht komplett einnahm, wie es mein eigener tat. Das war seine Stärke, als sie mir ersichtlich wurde. Und in diesem Moment wünschte ich mir, dass ich zumindest ein bisschen wie er sein könnte.
Während die Tränen auf meinen Wangen versiegten, atmete ich durch und richtete meinen Blick nach vorne, als die Drei, inklusive Wolfgang, zurückkehrten.
Es gab noch Eines, das ich erledigen konnte, um mich zu beweisen. Mich selbst zu beweisen.
"Holt das Reh und den Hasen", befahl Darius leise. "Bitte", fügte er dann voller Reue hinzu. Sie hievten zu Zweit das Reh aus dem Auto und einer übernahm den dagegen schmächtig aussehenden, kleinen Wildhasen. Ihre Fellfarbe und der Tod, war das einzige, dass diese beiden ehemaligen Lebewesen nun noch verband. Jegliche weitere ihrer Eigenschaften waren für meine Wahrnehmung verschlungen worden.
"Lloyd", murmelte ich still vor mich hin. "Ich werde dich finden und nach Hause zurückbringen."
"Wir werden ihn finden, zusammen", mischte sich Zion leise ein. Sein Arm schlang sich um meine Schulter und zog mich in der selben Bewegung an seine Brust. "Keine Sorge, wir packen das. Du bist nicht alleine."
Und doch hatte ich bis zur letzten Sekunde tatsächlich daran geglaubt, alleine zu sein. Alleine damit fertig werden zu müssen. Erik hatte es nicht verdient, jemanden wie mich um sich zu haben, der um seinen Vater trauerte. Vermutlich wusste ich nicht einmal halb so viel über Sam, wie er und ich hatte nur einen Bruchteil einer Lebenspanne mit ihm geteilt. Erik dagegen sein ganzes Leben.
"Ist es wegen Samuel?"
"Und wenn es so wäre?" Zion konnte mich anscheinend ziemlich einfach durchschauen, aber es störte mich nicht.
"Es wäre okay für mich", meinte er schlicht. "Aber lass uns zuerst deinem Bruder helfen, ja?"
"Okay." Auch wenn ich es wusste und wenn es meine tiefste Intention war, meinem Bruder zu helfen, so war ich sehr dankbar dafür, dass Zion in diesem Moment hier bei uns war. Alles, was geschehen war, hätte ohne ihn wohl ganz anders ausgehen können. Gerade für mich. "Danke."
"Nichts zu danken", hauchte er. "Lass uns einfach deinen Bruder finden."
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Lloyd
WerewolfNachdem Lloyd und Yumah vor Jahren den Fängen des Rudels entkommen sind, haben sie sich ein Leben fernab ihrer Vergangenheit aufgebaut. Doch nicht nur ein Freund der beiden Gefährten, sondern auch weitere Vorkommnisse sorgen dafür, dass sie die Spu...