- neunzehn -

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Freitags werde ich schon um 5 Uhr wach. Ich drehe und wälze mich auf der weichen Matratze hin und her, kann aber nicht mehr einschlafen. Um Emily nicht zu wecken, die friedlich schlummernd neben mir liegt, stehe ich auf und gehe ins Bad.

Ich ziehe mich aus und genehmige mir eine ausgiebige Dusche. Das heiße Wasser, das auf meinen geschundenen Körper einprasselt, entspannt mich. Während ich mich abtrockne, betrachte ich mich im Spiegel. Mein Gesicht ist abgeschwollen und die Hämatome sind "nur noch" hellgrün und nicht mehr dunkellila und blutunterlaufen.

In diesem Moment treffe ich einen Entschluss: ich werde heute wieder zur Uni gehen. Zum einen, weil ich mich von diesem Arschloch Colin nicht unterkriegen lassen will, zum anderen, und das ist strenggenommen der Hauptgrund, weil ich das sinnlose Rumliegen nicht mehr ertrage. Ich langweile mich zu Tode und vermisse sogar die Uni. Dass ich das mal sagen würde, hätte ich auch nicht für möglich gehalten, aber ich sehne mich nach anderen Menschen und geistigem Input.

Ich schminke mich mit stark deckender Foundation, um meine Wunden und blauen Flecken zu verstecken. Es gelingt mir nicht ganz, aber zumindest sehen sie deutlich harmloser aus.

Ich schminke auch meine Augen und trage ein wenig Bronzer auf, um etwas lebendiger auszusehen, bevor ich auf leisen Sohlen ins Schlafzimmer gehe und mir möglichst geräuschlos Kleidung aus meinem Schrank suche. Ich nehme meine schlichte schwarze Jeans, ein weißes T-Shirt und eine graue Strickjacke mit ins Wohnzimmer, wo ich mich anziehe, um Emily bloß nicht zu wecken.

Als nächstes bereite ich Frühstück vor. Ich koche Kaffee, brate Rührei, schneide Obst und backe Brötchen auf, welche ich dann für Emily und mich mit Käse und Schinken belege. Pünktlich um 7 Uhr bin ich fertig und wecke meine beste Freundin, die immer noch wie ein Engel in meinem Bett schläft.

Sanft streichele ich ihr über die Stirn und flüstere leise: "Emily, steh auf, ich habe Frühstück gemacht." Langsam öffnet sie die Augen und blinzelt verwirrt. "Was?", fragt sie mit heiserer Stimme. "Aufwachen, Em. Ich habe Frühstück gemacht."

Sie richtet sich auf, reibt sich die Augen und streckt sich kurz, bevor sie grinsend aus dem Bett hüpft. Emily ist einer dieser Menschen, die morgens gleich nach dem Aufwachen bestens gelaunt sind.

Als sie den offenen Raum betritt, in dem Küche und Wohnzimmer durch einen kleinen Essbereich getrennt sind, weiten sich ihre Augen überrascht, als sie das Frühstück entdeckt.

"Em, wir fahren gleich zur Uni", informiere ich meine beste Freundin wie selbstverständlich. Sie verschluckt sich fast an dem Rührei, das sie im Mund hat. "Ich halte es hier nicht mehr aus. Ich muss mal was anderes sehen."

"Ach, siehst du so gut aus", schlussfolgert sie nun grinsend. Zustimmend nicke ich.

"Bist du dir sicher, Ari?", fragt sie vorsichtig und mustert mich skeptisch.

"Ganz sicher", antworte ich überzeugt. "Okay, aber wenn es dir zu viel wird oder so, dann.." ".. dann sage ich dir Bescheid und wir gehen wieder nachhause, versprochen", unterbreche ich sie. Zufrieden grinst sie.

Nach dem Frühstück geht Emily ins Bad und macht sich ebenfalls zurecht, bevor wir gemeinsam zur Uni fahren. Ich parke mein Auto auf dem kleinen Parkplatz der Universität und will gerade aussteigen, da greift Emily nach meiner Hand und drückt sie fest. "Du schaffst das, okay? Und wenn du dich unwohl fühlst oder dir alles zu viel wird, gehen wir wieder." Sie schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln.

Ich zwinge mich dazu, ihr Lächeln zu erwidern. "Danke Emily. Du bist wirklich die beste Freundin, die man sich wünschen kann."

Eng nebeneinander laufen wir durch den langen Flur. Vor den Vorlesungssälen wimmelt es bereits vor Studierenden. Ich versuche, niemanden direkt anzuschauen und konzentriere mich auf den Weg, der vor mir liegt, doch trotzdem spüre ich die Blicke auf mir und höre, wie die anderen tuscheln.

Ich versuche, mich davon nicht beirren zu lassen und laufe mit Emily an meiner Seite zu dem Raum, in dem heute meine erste Vorlesung stattfindet.

Die Tür steht offen, einige Kommilitonen sitzen bereits auf den harten Stühlen und unterhalten sich angeregt. Ein lautes Durcheinander unterschiedlicher Stimmen dringt nach draußen. Emily umarmt mich sanft und drückt mir einen Kuss auf die Wange. "Wir sehen uns gleich in der Mensa, okay?" Ich nicke ihr zu. "Danke, Em. Ich packe das schon", versichere ich und versuche damit mehr mich selbst zu überzeugen, als meine beste Freundin. Mir ist ein wenig flau im Magen und ich frage mich, ob das hier wirklich die richtige Entscheidung war.

Langsam betrete ich den Raum. Einige meiner Kommilitonen nehmen keine Notiz von mir, andere mustern mich schockiert oder voller Mitleid, aber in zwei oder drei Gesichtern erkenne ich auch Schadenfreude.

Phil, Ian und Chase sitzen wie immer in der letzten Reihe. Ian und Chase gucken erst mich erschrocken an und tauschen dann besorgte Blicke miteinander aus.

Als meine Augen auf Phils treffen, bricht mir sein schmerzerfüllter Blick fast das Herz. Seine Augen weiten sich und fangen an zu glänzen. Die Farbe weicht aus seinem Gesicht, er wird kalkweiß und starrt mich regungslos an. Mit unsicheren Schritten gehe ich auf ihn zu, mein Herz schlägt mir bis zum Hals.

Ich ziehe den Stuhl neben ihm vor und setze mich darauf. Phil sagt nichts, er starrt mich einfach nur an. Jetzt, wo ich ihm so nah bin, sehe ich es deutlich, ich habe mich nicht getäuscht: seine braunen Augen sind gefüllt mit Tränen.

Ich weiß, dass er wissen will, was passiert ist und wer mir das angetan hat, aber gerade kriegt er kein Wort heraus.

Ich beuge mich leicht nach vorne. Sein vertrauter Weichspüler-Duft gemischt mit seinem herben Parfum steigt mir in die Nase. Ich drücke ihm einen liebevollen Kuss auf die Wange und flüstere ihm leise ins Ohr: "Colin stand am Montag unangekündigt vor meiner Tür und hat mich zusammengeschlagen."

Phil reagiert nicht, er ist wie zu Eis erstartt, bis er plötzlich abrupt aufsteht, mit schnellen Schritten nach vorne läuft und sich unter lautem Würgen in den Mülleimer übergibt.

Schockiert beobachte ich wie er sich den Mund an seinem Ärmel abwischt und dann mit hektisch den Raum verlässt.

ArianaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt