- einundsechzig -

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Am nächsten Morgen wache ich vor Phil auf, der scheinbar irgendwann noch ins Bett gekommen ist, und schleiche lautlos ins Badezimmer, um mich fertig zu machen.

Leise trete ich aus dem Bad und lausche. Stille. Phil scheint immer noch zu schlafen. 10.23 Uhr. Perfekt. Jetzt kann ich heimlich, still und leise abhauen, ohne ihm noch einmal ins Gesicht lügen zu müssen.

Nachher werde ich ihm alles erzählen, aber gerade will ihm nicht Rede und Antwort stehen müssen. Außerdem würde er mich eh nicht gehen lassen, wenn er wüsste, dass ich mich mit Elijah treffen will.

Ich fühle mich richtig schäbig, als ich auf leisen Sohlen Richtung Tür schleiche, unterwegs noch meine dicke schwarze Daunenjacke und meine Sneakers nehme, und so leise wie möglich die Wohnungstür schließe.

Mein Herz schlägt kräftig in meiner Brust und ich laufe mit schnellen Schritten durch das Treppenhaus. Ich komme mir vor wie eine Einbrecherin, wie ich leise und hektisch aus der Wohnung meines Freundes flüchte.

An der Haustür angekommen schlüpfe ich in meine Turnschuhe und laufe heraus zu meinem kleinen weißen BMW, den Phil gestern nach dem Restaurantbesuch noch mit mir abgeholt hat.

Als ich vor meinem Wohnhaus parke, atme ich tief aus. Erst jetzt fällt die Anspannung von mir ab, die mich die ganze Zeit belastet hat, aus Angst, Phil könnte mich erwischen.

Erwischen, wie das klingt. Als würde ich etwas Verbotenes tun.

"Ne, das ist doch nix Verbotenes. Du triffst dich nur mit deinem drogenabhängigen ehemaligen 'Freund', der dich an nahezu die gesamte Palette verbotener Substanzen herangeführt hat, offensichtlich versucht hat, dich mit den Drogen gefügig zu machen um dich flachzulegen, und zur Krönung mit einem lebensgefährlichen Kreislaufzusammenbruch alleine in deiner Wohnung hat liegen lassen. Und diesen reizenden Gentleman willst du heimlich treffen, da du Angst hast, dein Freund könnte was dagegen haben. Phil ist wirklich der Böse in der Geschichte", sagt die Stimme in meinem Kopf sarkastischen und in herabwürdigendem Tonfall.

Mein Hals schnürt sich zu. Ich bin echt so ein Vollidiot. Ich setze die Beziehung zu dem Mann, den ich liebe, aufs Spiel, um mich mit diesem beschissenen Typen zu treffen, der mich zu den Drogen gebracht hat und beinahe hätte sterben lassen.

Wozu? Um die Wahrheit zu erfahren?

Es fällt mir wie Schuppen von den Augen.

Ich habe mich von ihm einlullen lassen, als er plötzlich vor meiner Tür stand und mich um dieses Gespräch gebeten hat, voller Reue mit seinen traurigen, braunen Teddyaugen.

Ich bin neugierig, was er zu sagen hat, aber doch nicht um jeden Preis. Phil hat mir unmissverständlich klargemacht, dass er mir keine weiteren Lügen verzeihen würde. Das war seine einzige Bedingung und die bin ich gerade im Inbegriff zu brechen.

Wenn ich mich jetzt mit Elijah treffe, werde ich Phil für immer verlieren.

Meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen und sofort spüre ich wieder den Schmerz und die Sehnsucht, die ich in den letzten Wochen empfand, als Phil nicht bei mir war.

Mir kommt das Bild von Phil und Vivian in den Kopf, wie sie gemeinsam an der Bar stehen. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn Phil nicht bei mir wäre, sondern bei einer anderen Frau. Es muss nicht Vivian sein, aber wenn ich ihn verliere, wird er mit Sicherheit - und auch mit gutem Recht! - nicht sein restliches Leben auf mich warten, sondern zwangsläufig früher oder später eine Neue haben.

Lähmende Übelkeit steigt in mir auf. "Willst du das etwa? Willst du Phil nun komplett von dir wegtreiben? Er hat nicht viel von dir verlangt, und du versagst schon zwei Tage später und lügst ihn wieder an?", keift die Stimme in meinem Kopf weiter.

Mein schlechtes Gewissen überrennt mich, überwältigt mich, schmeißt mich völlig aus der Bahn. Es kommt wie eine riesige schwarze Welle, die mich packt, wegzieht und mit voller Wucht an einen Felsen schleudert, an dem ich in tausend Teile zerschelle.

Heiße Tränen quellen aus meinen Augen und rinnen mir über meine kalten Wangen. Das Atmen fällt mir zunehmend schwerer. Meine Hände verkrampfen sich und ich schlage wütend auf das Lenkrad ein.

Noch immer sitze ich in meinem Auto vor der Haustür und heule. Am hellichten Tag, mitten in New York. Autos, Taxis und Fahrräder rasen auf der einen Seite vorbei, während auf der anderen Seite unterschiedliche Menschen den Gehweg passieren, und ich sitze dazwischen und heule mir die Seele aus dem Leib.

"Es ist noch nicht zu spät. Du kannst noch alles richtig machen!", flüstert die Stimme in mir voller Hoffnung. "Es ist längst zu spät!", schreie ich laut zurück.

"Nein, Ari, es ist nie zu spät das Richtige zu tun", höre ich plötzlich Phils sanfte Stimme in meinem Ohr.

Das gibt mir den Rest. Erneut heule ich voller Verzweiflung und steigere mich immer weiter in die Wut auf mich selbst, als plötzlich der Boardcomputr meines Autos einen eingehenden Anruf anzeigt.

Phil.

Ich Idiot habe ihm in meinem Wahn nicht mal Bescheid gesagt, dass ich gegangen bin, geschweige denn, wohin. Wahrscheinlich macht er sich nun auch noch Sorgen um mich.

In Windeseile wäge ich meine Möglichkeiten ab. Ich könnte ihn weiter belügen, dann würde er es früher oder später rauskriegen und mich verlassen. Wieder spüre ich ein schmerzhaftes Ziehen, welches durch meinen ganzen Körper jagt.

Ohne weiter darüber nachzudenken nehme ich den Anruf an.

"Ariana, wo bist du?", fragt Phil nüchtern. "Ich.. Ich. Phil, ich..", stottere ich heulend vor mich hin. "Was ist los? Ist dir was passiert? Wo bist du?", fragt er alamiert.

"Nein, ich.. Phil ich bin gerade dabei riesige Scheiße zu bauen. Kannst du.. Kannst du bitte zu mir kommen?", stammele ich verzweifelt.

"Ich bin in zehn Minuten da."                                                                                               

ArianaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt