- dreiundsiebzig -

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Ich rase viel zu schnell durch die Straßen und breche dabei mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit alle Geschwindigkeitsbegrenzungen.

Mein Herzschlag normalisiert sich nur sehr langsam und je mehr das Adrenalin nachlässt, desto stärker spüre ich die Schmerzen in meiner Nase.

Noch immer tropft Blut über mein Gesicht und befleckt mein weißes Shirt und meine helle Hose.

Ohne darüber nachzudenken, wohin ich fahre, finde ich mich plötzlich auf dem Parkplatz des Chelsea wieder.

Zum Glück herrscht heute vor der Tür kein reges Treiben, da es noch relativ früh ist. Trotzdem beabsichtige ich nicht, den Club in diesem Zustand zu betreten.

Ich schalte den Motor und das Licht aus und durchwühle mein Handschuhfach, bis ich eine Packung Taschentücher finde und mir eins an die Nase halte.

Dann ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Mein erster Impuls ist, Phil anzurufen. Mein Phil. Wie gerne würde ich mich jetzt in seine Arme fallen lassen und mich hemmungslos an seiner Schulter ausweinen.

Aber mein Stolz siegt über meinen Wunsch nach Phils Nähe. Vielleicht ist es falscher Stolz, aber der Schmerz über seine Zurückweisung ist noch zu präsent.

Ich entsperre mein Display und klicke auf Aidens Nummer. Es tutet und tutet, aber Aiden hebt nicht ab. War ja klar, dass er bei dem Lärm sein Handy nicht hört.

Als nächstes probiere ich es bei John, doch auch der scheint den Anruf nicht mitzubekommen.

"Verdammte Scheiße", fluche ich und schlage verzweifelt mit beiden Händen auf das Lenkrad.

Kurz entschlossen steige ich aus. Ich sehe einfach gerade keine andere Möglichkeit.

Mit gesenktem Blick laufe ich zur Tür und will einfach reinlaufen, als mich eine große Hand sanft an der Schulter packt.

"Ariana, was ist dir passiert?", fragt der breitgebaute, dunkelhaarige Türsteher mit sanfter Stimme.

Ich zucke zusammen und halte meinen Blick gesenkt.

Leicht hebt er mein Kinn an und begutachtet mein Gesicht. "Na los, sag schon", fordert er einfühlsam.

"Ist Aiden drin? Oder John?", frage ich leise und merke wie meine Augen sich mit Tränen füllen.

"Ja, sind beide drin. Phil auch", informiert er mich. Sein Name versetzt mir einen Stich.

"Juice, hol mal Harris oder Parker raus. Sag ihnen, es ist dringend. Und Leo, hol mal ein Kühlpack!", kommandiert er zwei seiner untergeordneten Kollegen herum.

Dann schiebt er mich behutsam in einen kleinen Raum neben dem Eingang, der sowas wie eine Kommandozentrale für die Securitykräfte ist.

Er befördert mich auf einen Stuhl und reicht mir ein Glas Wasser, welches ich dankend annehme, jedoch nicht trinke.

In der anderen Hand halte ich immer noch das Blutgetränkte, zusammengeknüllte Taschentuch. Die Blutung ist zwar zurückgegangen, aber immer noch nicht gestillt.

Meine Nase brennt und schmerzt und der Schmerz drückt mir bis in die Stirn und die Augen.

Schwungvoll fliegt die schwere Tür auf, die Lennox, der nette Türsteher, den ich schon seit Jahren kenne, hinter uns geschlossen hat.

"Ariana", ruft Aiden entsetzt, stürmt auf mich zu und kniet sich vor mich.

"Ach du scheiße, wer war das?", knurrt John, der ihm folgt.

Ich schweige, aber kann die Tränen nicht mehr zurückhalten, die über meine Wangen rinnen.

John tritt an meine Seite und tätschelt überfordert meine Schulter. Hinter ihm tritt nun eine weitere Person in den kleinen Raum, der wahrscheinlich gleich wegen Überfüllung geschlossen wird. Ich brauche meinen Kopf nicht zu heben, um zu wissen, wer auf mich zu kommt.

Ich rieche es, ich spüre es, ich sehe es selbst an seinem Schatten.

Langsam tritt er neben mich und hebt sanft mein Kinn an.

"Wer?", fragt er leise.

Sein Gesicht spiegelt blankes Entsetzen und seine Augen glänzen verräterisch.

Aiden rutscht zur Seite und macht den Platz frei für Phil, der sich mit einer geschmeidigen Bewegung zu mir hockt.

"Ariana, wer?", wiederholt er seine Frage mit sanftem Nachdruck.

"Colin", flüstere ich.

"Wer ist das?", fragt John und mir entweicht ein heiseres Lachen.

"Ist das der Hurensohn der dich schon mal zusammengeschlagen hat?", fragt Aiden.

Ich nicke müde.

"Dieser verfickte Bastard. Ich schlage dem alle Zähne aus", brüllt John wutentbrannt. Von 0 auf 100 schneller als jeder Sportwagen.

"Hast du ihn irgendwo getroffen?", fragt Phil ruhig. Wie immer wirkt er beherrscht, doch das täuscht. Er kann einfach verdammt gut die Fassung bewahren.

"Er hat mir vor meiner Wohnung aufgelauert", gebe ich leise zu.

Phil erhebt sich und atmet tief durch. In dem Moment kommt ein junger Türsteher herein und reicht ihm ein Kühlpack. Phil gibt es an mich weiter und sagt: "Hier Ari, leg das auf deine Nase und kommt mit. Wir fahren zum Krankenhaus."

Ich protestiere nicht, sondern stehe stillschweigend auf und tapse Phil hinterher. Ich bin froh, bei ihm zu sein und ich bin froh, dass er die Kontrolle übernimmt.

Die Notaufnahme ist leer und wir müssen nur kurz warten, bevor ich in den Behandlungsraum gerufen werde. Zum Glück, denn von dem Geruch des Desinfektionsmittels wird mir schlagartig übel.

Der Arzt untersucht mich und hört sich meine Geschichte an, lässt meine Nase röntgen und diagnostiziert mir wenig später einen einfachen Nasenbeinbruch. Ich bekomme einen Gipsverband und Schmerzmittel und darf zum Glück wieder nachhause. Die Nacht zur Überwachung im Krankenhaus zu verbringen wäre auch wirklich das letzte gewesen, was ich jetzt noch gebraucht hätte.

Phil ist sehr distanziert und redet während der Autofahrt, so wie zuvor im Krankenhaus, kein Wort mit mir. 

Ich würde zu gerne in seine starken Arme sinken und seine weichen Lippen auf meinen spüren, doch ich merke, dass er das nicht will und mache deshalb nicht den ersten Schritt.

Zu groß ist die Angst, von ihm zurückgewiesen zu werden. Das würde ich heute nicht noch einmal verkraften.

Außerdem merke ich, dass Phil noch etwas anderes zu bedrücken scheint, doch er sagt nichts. Vielleicht will er mir das nicht auch noch zumuten.

Als er vor meinem Haus hält, sehe ich ihn kurz erwartungsvoll an, doch er spielt an seiner Armbanduhr und würdigt mich keines Blickes.

Schweigend nehme ich meine Tasche und steige aus dem Auto aus. Als ich gerade die Tür zuwerfe, murmelt Phil etwas, was ich als "Nächstes Mal kann dich Aiden fahren" interpretiere.

Ich halte inne und sehe in fragend an, doch er hat schon den Motor gestartet und fährt davon. Ich bleibe ratlos und wütend zurück.

ArianaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt