Kapitel 31

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Am späten Sonntagabend saß Hermine im Gemeinschaftssaal der Achtklässler und las in ihrem Zaubertränkebuch. Sie hatte Draco jetzt seit gut einer Woche nicht mehr gesehen und wartete sehnsüchtig auf seine Ankunft. Im Tagespropheten hatte sie gelesen, dass Lucius Malfoy, Dracos Vater, letzte Woche gestorben war und am vorigen Freitag beigesetzt worden war. Deshalb war ihr Laborpartner also ohne ein Wort abgereist. Hermine sorgte sich um ihn, sie wusste wirklich nicht, wie er mit dem Tod seines Vaters umgehen würde. Zwar war Lucius nach dem Kuss des Dementors im Sommer fast schon wie tot gewesen, aber es musste für ihn schon irgendwie etwas anderes sein, etwas Endgültigeres. Es war schwer für Draco, über die Erlebnisse aus seiner Vergangenheit und über seine Familie zu sprechen; Hermine wusste also, dass es nicht leicht sein würde, für ihn da zu sein, aber sie würde alles versuchen. Sie musste ihm zeigen, dass sie in guten wie in schlechten Zeiten an seiner Seite sein würde; dass er von nun an nicht mehr allein mit seinen Problemen umgehen musste.

Nach etwa einer Stunde erregte ein Geräusch hinter Hermine ihre Aufmerksamkeit, jemand trat durch die Eingangstür des Achtklässlerturms. Sie entdeckte genau den jungen Mann, auf den sie etwa eine Woche lang gewartet hatte. Da ansonsten niemand anders im Gemeinschaftssaal der Achtklässler weilte und die beiden so nicht sehen konnte, stand Hermine schlagartig auf und lief auf ihn zu. Zunächst sah er sie etwas verwirrt an, womöglich, weil er es nicht erwartet hatte, dass sie wach geblieben war und er sie so spät noch sehen würde. Als Hermine Draco in die Arme schloss, wehrte er sich nicht – entgegen ihrer Erwartungen – und ließ sie gewähren. Die beiden standen sicher zehn Minuten ineinander verschlungen da, als sie bemerkte, dass Draco einige Tränen die Wangen hinunterliefen. Seit dem ersten Abend des neuen Schuljahres hatte sie ihn nicht mehr weinen gesehen. Hermine nahm Dracos Taschentuch – das sie seit ihrem Zusammenbruch in der Bibliothek immer bei sich trug – aus ihrem Umhang und wischte die kleinen Tropfen aus seinem Gesicht. Für einen kurzen Moment legte er seinen Kopf auf ihrem ab, sie spürte, wie er tief einatmete, um ihren Geruch in sich aufzusaugen. Doch nach wenigen Sekunden besann er sich, schüttelte den Kopf, küsste sanft ihre Stirn und drehte sich um, um die Treppe hoch zu seinem Schlafsaal hinauf zu gehen. Hermine war froh darüber, dass er es ihr zumindest erlaubt hatte, ihn für diesen einen Moment festzuhalten und für ihn da zu sein. Es würde wirklich nicht einfach werden, aber sie würde ihm zeigen, dass er nicht mit sich selbst und seinen Problemen allein sein musste. Hermine hatte jedoch nicht bemerkt, dass keine andere als Marietta hinter einem der Treppenabsätze stand, die zu den Schlafsälen hinaufführten, und sie bei allem beobachtet hatte.

Am nächsten Morgen sah Hermine das erste Mal am Anfang der Zaubertränke-Stunde, als er die Zutaten für einen Trank zurechtlegte, der als effektiver Pflanzendünger zu gebrauchen sein sollte. Zwar lächelte er nicht, als er sie bemerkte, aber er schien auch nicht seine undurchdringbare Maske aufgesetzt zu haben, bei der es Hermine schwer fiel, überhaupt Emotionen wahrzunehmen. „Guten Morgen, Draco!", sagte sie freundlich und gesellte sich zu ihm an den Tisch. „Partnerin", entgegnete er mit einem Kopfnicken. Hermine wollte nicht in dieser Situation mit ihm über seinen Vater reden, weshalb sie sich beeilte, schnell mit dem Trank fertig zu werden, damit beide wieder früher den Unterricht verlassen konnten. Während Draco und sie den Trank brauten, bemerkte sie ständig böse Blicke Mariettas, die sie zunehmend verunsicherten.

Als die beiden auf Drängen Hermines sehr schnell mit ihrem Trank fertig waren, riefen sie Professor Slughorn zu sich. Dieser war nicht ganz so begeistert von ihrer Leistung wie in den anderen Stunden zuvor, schrieb dies jedoch nicht Hermines Ruhelosigkeit, sondern eher Dracos Verlust zu – sie erhielten nur ein „Erwartungen übertroffen". Als Hermine die Tore des Kerkers schloss, ging sie Draco schnell hinterher. „Draco, warte!", schrie sie fast, „Ich will, dass du weißt, dass du mit mir über alles sprechen kannst. Wenn du jemanden brauchst, bin ich immer für dich da. Du musst nicht mit allem allein fertig werden." Er sah sie an, fuhr sich durch die Haare; Hermine fand, dass er aussah, als tobte in ihm ein innerer Kampf. „Ich denke, dass ich auf das Angebot zurückkommen werde. Aber ich muss selbst erst einmal herausfinden, was gerade Sache ist. Trotzdem vielen Dank Hermine", sagte er und Hermine war perplex. Hatte er sich ihr gerade geöffnet? Wo waren die Wut und der Schmerz, die ihn sonst immer umgaben? Sie nickte, woraufhin er sich umdrehte mit seinen langen Beinen viel schneller die Treppen hochstieg als Hermine. Wieder war er verschwunden, doch sie fühlte, dass sie nicht nur einen Schritt vorwärts gemacht hatte. „Was bloß in dieser einen Woche geschehen war, das seine Ansichten so umgekrempelt hatte?", fragte Hermine sich nachdenklich.

Warum Er?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt