V I E R

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"Warum hast du mich gerettet?", sprang plötzlich aus mir heraus. "Warum nicht?", kam eine Gegenfrage. Ich wurde still. Es gibt viele Gründe jemanden ins Verderben laufen zu lassen. Sehr viele sogar. Verträumt erstarrte mein Blick in seinen Augen. Versunken in meinen tiefen Gedankenregalen.

"Du wurdest fast vergewaltigt. Du hast geschrien und geweint. Ich hätte es niemals in Frage gestellt, da zu stehen und nichts zu unternehmen.", platzte nach einer Gedankenpause aus ihm heraus.

Er drückte sich so gewählt aus, das beeindruckte mich. Ich bin noch nie solch einem originellem Menschen wie ihm in so einem jungen Alter begegnet.

"Ich fand noch gar keine Zeit mich zu bedanken. Ohne dich wäre ich...", stockte ich abrupt. Ich hatte Angst. Angst vor dieser Vorstellung, diesem Wort.

"Du musst dich nicht bedanken. Es ist doch selbstverständlich anderen in Not zur Hilfe zu kommen.", lockerte er die Situation auf. "Wenn nur mehr so wie du denken würden.", dachte ich laut nach.

Ich richtete mich von meinem Schneidersitz auf und war froh meine Beine strecken zu können. "Danke für dieses schöne Gespräch, fremder Mann!", rief ich ihm nach als ich im Gehen war.

Ironisch verneigte er sich und meinte zum Schluss: "Auf Wiedersehen, fremde junge Frau!" Dann richtete er seinen langen schwarzen Mantel zurecht und zog seine Kapuze wieder über. Unsere Wege trennten sich. Da wurde mir allmählich auch bewusst dass wir unsere Namen nie ausgetauscht hatten. Wie er wohl hieß?, fragte ich mich. Er musste einen glamourösen, eleganten Namen tragen. Einen Namen wovor man Respekt bekam, wenn man ihn hörte.

Ich schritt voran, mit den Gedanken irgendwo versunken beim mysteriösen Mantelträger. Fraglich, warum er mich so beschäftigte. Ich meine, ich kannte nicht einmal seinen Namen. Warum sollte ich schon groß über ihn nachdenken? Es kam mir einerseits so richtig, aber auch so falsch vor so über ihn zu rätseln. Schließlich war er mir sehr schleierhaft. Er besaß Dinge, worüber unsereiner in diesem Wald nur träumen konnte. Keiner kannte ihn, demnach musste er neu hier sein. Ob ich ihn fragen sollte wo er herkam? Vermutlich eine schlechte Idee. Ich traute mich nicht.

Wow, die Alpha Portland's hatte Angst vor einer banalen Frage. Ich hatte keine Furcht, oder sollte sie zumindest nicht haben. Eine Alpha muss selbstbewusst, stark und furchtlos sein. Das war ich auch einst einmal, nun war ich eine schwache, ängstliche und zerbrechliche Omega. Doch ein Typ ließ mich so erstaunen, dass über keinen anderen mehr denken konnte. Noch nie hat mich jemand in kurzer Zeit so beschäftigt. Das machte mir Angst. Es ließ mich erschauern.

Als ich vor meinem Wohnwagen mitten im Wald ankam, warf ich einen Blick zur Sonne. Sie stand auf circa sechzehn Uhr. Da viel mir auf dass ich den ganzen Tag noch nichts aß und dass ich mein ständiges Magenknurren verdrängt habe. Ich ging um den Wohnwagen herum und sah das meine Tür speerangel weit offen stand. Frustriert schnaubte ich und trat in meinen Wohnraum ein und prüfte das Versteck wo ich mein Geld lagerte. Es war weg. Das war tatsächlich nicht das erste mal dass mir das passierte. Ich schmetterte die Tür zu und nahm es so hin. Würde ich mich noch langer darüber beschweren, würde es nicht besser werden . Also machte ich mir etwas zu essen, das ich nun dringend nötig hatte. Mein Schicksal war für heute bestimmt. Ich musste singen.

In nahm eine Kaserol und füllte Wasser ein, stellte sie anschließend auf den Gaskocher und ließ eine Flamme entzünden. Als das Wasser kochte, würzte ich es und schüttete die Nudeln in den Topf. Nebenbei bereitete ich noch eine Tomaten-Tunfisch-Sauce vor.

"We're sitting here in this dirty bar, waiting for the death. Yeah, waiting for the death! But we will not die, cause the devil will not find us here. Find us here in this underworld bar."

Ich sang etwas vor mich dahin und spekulierte welches Lied ich an diesem Abend singen sollte und entschloss mich dafür dort spontan zu wählen. Ich steckte einen Löffel in die Sauce und kostete sie. Eine kleine Priese Salz hätte es noch vertragen können.

Als nach langer Gedankenwühlerei endlich ein Ende in Sicht war, nahm ich mir die Nudeln mit zu Tisch. Oder sollte ich sagen 'Tischlein'. Während ich meinen Magen füllte starrte ich fokussiert aus dem Fenster. Was heute auf dem Plan stand in der Altköter-Bar? Ich wollte es eigentlich nicht wissen, denn wenn ich daran dachte überkam mich nur die Angst. Ich brauchte jedoch das Geld. Ich konnte mich nicht von Luft und Gedanken ernähren.

Als der Teller lehr, das Glas ausgetrunken und die Kerze erloschen war, bereitete ich mich Mental auf den Abend vor. Ich versetzte mich in die Rolle der schwarzhaarigen Barsängerin. Die, die sang und anschließend so schnell wie möglich versuchte, den grabschenden Wölfen zu entkommen. Die gierigen Blicke zu ignorieren, die schleimigen pfiffe zu überhören und so tun als würde man das alles einfach nicht mitbekommen.

Beim abwaschen versuchte ich an etwas anderen zu denken. Könnte ich ihn heute wieder sehen? Will er mich wieder sehen? Bedeute ich ihm etwas? Fragen über fragen, die meinen klaren Verstand vernebelnden.

Ein letztes mal betrachtete ich mich kopfschüttelnd ihm Spiegel. Kopfschüttelnd weil ich mir selbst nicht gefiel. Diese schwarze Perücke, das Make-up, diese Kleidung, all das was ich nie sein wollte. So wollte ich nie enden. Doch was blieb mir denn anderes über? Ein letztes mal richtete ich mir die Stirnfransen der Perücke und das hautenge Kleid zurecht. Es fühlte sich einfach komplett falsch an. Aber das war in diesem Moment nicht von Bedeutung, also riss ich mich zusammen und trat aus dem Haus.

Als ich ankam war es schon stockdunkel. Etwas unbeholfen auf den hohen Schuhen stolperte ich dem Lagerfeuer entgegen. Gestern hatte ich schon gelesen, dass heute ein Lagerfeuerfest war und die Bühne draußen stand. Der Ruß, der genau in meine Richtung wehte stieg mir in die Nase. Die Meute jubelte und das Bier floss wie aus Eimern. Aus sicherer Entfernung richtete ich mir für die bevorstehende Gefahr und versuchte anschließend so selbstbewusst wie nur möglich nach vorne zu schreiten.

Betrunkene, alte Männer die versuchten zu tanzen. Frauen die unbeholfen von anderen mitgeschleppt wurden, hatten das 'Glück' sich irgendwo verkriechen zu können. Ich wollte mich nicht in einer Ecke verkriechen müssen, also trat ich genau auf das Podest wo mich jeder sehen konnte.

Die Blicke der Barbesucher lagen plötzlich auf mir. Mein Blick suchte nach jemanden bestimmtes. Vergeblich. Ich nahm die Gitarre aus der Bar, die schon auf der Bühne stand, zur Hand und stellte mir das Mikrofon ein. Beim Stimmen der Gitarre blickte ich ein letztes mal in die Menschenmenge und scanne jeden einzelnen ab. Die Person die ich vor Gesicht bekommen wollte, war nicht hier.

Ein letztes mal räusperte ich mich und griff zu dem Mirko: "Bury a Friend von Billie Eilish." Keinen Ausdruck in den Gesichtern konnte ich erkennen, offensichtlich kannten sie den Song nicht. Sie waren wohl schon zu lange hier um ihn kennen zu können. Ich schloss die Augen für einen Augenblick und legte meine Hand auf die Gitarrensaiten und begann die spielen.

"What do you want from me? Why don't you run from me?
What are you wondering? What do you know?
Why aren't you scared of me? Why do you care for me?
When we all fall asleep, where do we go?"

Aufmerksam standen sie plötzlich alle da, mit ihren Krügen in den Händen. Langsam aber sicher kamen sie in das Lied hinein und wippten betrunken zur Musik.

"Come here.
Say it, spit it out, what is it exactly.
You're payin'? Is the amount cleanin' you out, am I satisfactory?
Today, I'm thinking' about the things that are deadly.
The way I'm drinking' you down.
Like I wanna drown, like I wanna end me."

Die Meute wühlte sich leicht auf, als unerwartet jemand neues dazu kam. Angespannt spähte ich in diese Richtung. Insgeheim hoffte ich dass er es war.

Songtext1: @Sopeva
© Alle Rechte vorbehalten.
Songtext2: Billie Elish - Bury a Friend

YUNA - the hidden omegaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt