Kapitel 32

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"Das hättest du ihr nicht sagen sollen", zischte Rote Klinge so leise, dass die grübelnde Lara acht Schritte hinter ihnen sie nicht hören konnte. Hazla war zum Glück mal wieder verschwunden, um zu jagen. Dieser Drache wurde einfach nicht satt von der kleinen Beute in den Bergen.

"Sie hat ein Recht auf die Wahrheit", antwortete der Ora, ohne seine Stimme zu senken. "Und so kann sie sich wenigstens besser vorbereiten."

Rote Klinge schnaubte. "Otto, sieh sie dir doch mal an. Sie ist ein naives Ding, das vielleicht eine gewisse Faszination, aber bestimmt kein Talent für den Kampf hegt." Sie warf einen Blick zurück.

Laras lange, braune Haare waren total verknotet und wirr. Geistesabwesend versuchte das Mädchen, sie mit seinen zerkratzten Fingern zu entwirren. Seine Haut war an Armen und Beinen ebenfalls mit Schrammen übersät. Die grüne Kleidung war inzwischen schon mehr als angeschlagen, aber Lara hatte sich stur geweigert, sie auszutauschen. Rote Klinge seufzte leise. Das Mädchen war ja noch nicht einmal besonders ausdauernd oder schnell. 'Durchschnittlich' war das richtige Wort, um Lara zu beschreiben. Sie würde das hier ohne Hazla nicht überstehen.

"Ich bin mir sicher, sie ist begabt", widersprach Otto. "Sie muss nur lernen. Zur Not gibt es ja noch Hazla. Und der Kristall kann auch für sie wichtig sein. Mit diesem Antrieb..."

"Zuerst bestehst du darauf, ihr die Wahrheit zu sagen und gleich darauf machst du ihr falsche Hoffnungen?" fragte Rote Klinge und zog die Augenbraue hoch.

"Nein, ich werde ihr auch weiterhin die Wahrheit erzählen. Wenn sie uns hilft und wir den Feuerkristall holen können, werde ich ihr diesen Rückweg zu sich nach Hause anbieten. Aber dafür brauchen wir erst den Kristall", sagte der Ora und lächelte, zufrieden mit diesem Plan.

"Na schön", murmelte Rote Klinge. Auch wenn Lara noch ein Kind war, auf die Intuition von Otto konnte man vertrauen.

"Ein Weg zurück?" fragte Lara erstaunt und vergaß für einen Moment ihre schmerzenden Muskeln. "Ich könnte durch diesen Kristall wirklich zurück nach Hause?"

Steinhaut lächelte. "Ja natürlich, aber du musst uns dabei helfen, ihn erst wieder zu bekommen. Tut mir leid, dass ich dir das nicht gleich gesagt habe. Was hältst du davon?"

Lara überlegte. Sie erinnerte sich an ihre Eltern und an ihren Bruder, die Musik, ihre Freundinnen, ihr Leben. Aber irgendwie kam keine Sehnsucht in ihr auf. Die letzten Wochen waren viel zu schnell in einem Wirbel aus fremden Eindrücken, Lernen, Reisen und Staunen vorübergezogen. Sie hatte neue Freundschaften geschlossen. Sie war geflogen. Hatte wütend herumgeschrien, geweint und gelacht. Und wenn Lara ehrlich war, hatte sie ihr altes Leben nicht wirklich vermisst. Sie dachte an Hazla, Kora, Sally, diese Elisa und die drei Ältesten in Valsara. Fast hätte sie den Vorschlag abgelehnt.

Aber dann meldete sich ihr schlechtes Gewissen und einige Probleme. Welche Sorgen machten sich nur ihre Eltern? Was war dieses gruselige Wesen, das sich selbst ihr Alptraum nannte? Warum hatte Esmeralda sie aus Valsara fortgeschickt? Was wollte sie, Lara, eigentlich? Welches Ziel hatte sie in dieser Welt? Ein treuer Bund, geschlossen in höchster Not, Erde die Kohle, Wind der Blasebalg, Feuer die Hitze, Wasser zum Löschen und ein Mädchen zur Vollendung des Werkes, flüsterte Emily ihr noch einmal zu.

In diesem Moment fasste Lara einen Entschluss. Sie hob die Augen und sah Steinhaut an. "Ich helfe euch." Und dann reise ich weiter nach Arvente, so wie Esmeralda es wollte. Ich werde meine Aufgabe hier erfüllen und meine Antworten bekommen, bevor ich zurückkehre, dachte sie.

Ein Messer bohrte sich nur Zentimeter von ihrer Nase entfernt in einen Baumstamm. Lara zuckte zusammen. Rote Klinge warf diese Dinger eindeutig zu schnell. Sie selbst sollte eigentlich ausweichen, aber sie konnte überhaupt nicht erkennen, in welche Richtung die Messer flogen. Da blieb Lara lieber stocksteif stehen und hoffte, dass die Ara nicht die Konzentration oder Geduld verlor. Vor Anspannung zitterte jeder ihrer Muskeln.

Steinhaut stand seufzend auf. "So wird das nichts. Sie weiß, dass du ihr keine Verletzungen zufügen wirst. Und soweit ich mitbekommen habe, macht sie deswegen gar nichts."

Rote Klinge schüttelte fluchend den Kopf und warf ein weiteres Messer. Es nagelte einen Stoffetzen von Laras Ärmel an den armen Baum, der inzwischen schon ziemlich zerstochen aussah. "Du hast recht", meinte sie zähneknirschend. "Was schlägst du vor?"

"Zuerst der Schutz und dann einige halbwegs sichere Angriffstechniken. Viel mehr schaffen wie erst mal nicht", sagte der Ora. "Ihre Magie ist der Schlüssel."

"Na schön", murmelte Rote Klinge und wandte sich wieder Lara zu, während Steinhaut davon stapfte, auf die Jagd. "Hör zu, Mädchen. Als Erdmagierin hast du zwei Möglichkeiten der Abwehr. Entweder konzentrierst du dich auf die Waffen deiner Gegner, in diesem Fall meine Messer, und machst dir das Material untertan. Diese Technik ist aber nur wirkungsvoll bei nichtmagischen Angriffen. Für einen Kampf zwischen die und einem Magier solltest du ein Schutzschild beschwören. Hoffen wir mal, dass es nicht dazu kommt, aber du musst das trotzdem lernen. Fangen wir mit der ersten Methode an. Konzentriere dich auf das Messer und lass es zu dir schweben." Sie deutete auf die Klinge, die den grünen Stoff aufgespießt hatte.

Lara nickte, aber ein dumpfer Schmerz lenkte sie ab. Hatte Rote Klinge sie vielleicht doch mit ihren Messern gestreift? Vorsichtig sah Lara an sich hinab, konnte aber keine Kratzer oder Wunden entdecken. Kopfschüttelnd beendete Lara die Inspektion und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Metall, dass ja letztendlich auch von unter der Erde kam. Theoretisch müsste sie es also beherrschen können. Genauso gut hätte sie aber auch mit dem Griff aus einer Art Geweih arbeiten können. Sie wollte ausprobieren, ob ihr die Kontrolle des Messers auch gelang, ohne ihr Bewusstsein zu spalten.

Das Messer erzitterte kaum merklich und Lara biss sich vor Freude auf die Lippen. Quälend langsam ruckelte die Klinge aus dem Stamm heraus und sauste dann blitzschnell auf das Mädchen zu. Im gleichen Moment durchzuckte ein scharfer Schmerz dessen Hüfte. Lara bremste das Messer erschrocken. Durch die Luft ließ es sich anscheinend viel schneller bewegen. Hatte sie sich selbst verletzt? Aber auf ihrer Hüfte war alles okay. Noch nicht einmal etwas aufgeschürfte Haut war zu sehen. Also wandte Lara sich wieder der Übung zu. Ein Gedanke genügte und das Messer tanzte blitzend durch die Luft, wie eine Verlängerung ihres Körpers. Lara ließ es in ihre Hand sinken und betrachtete es neugierig. Es war ein schlichtes Zweckwerkzeug, ohne jede Verzierung und doch auf eine eigentümliche Weise elegant.

Rote Klinge beobachtete sie mir einem Lächeln. "Gut gemacht!" rief sie. "Jetzt mach das Ganze mal schneller!"

Obwohl es Lara nicht viel Kraft kostete, die Messer zu kontrollieren, keuchte sie schon bald. Rote Klinge warf schließlich bis zu sieben Messer in winzigen Abständen auf sie. Und die würden jetzt alle treffen, hatte sie sie gewarnt. Erst als Lara es schaffte, alle Messer noch in der Luft zum Stillstand zu bringen, oder abzulenken, ohne ausweichen zu müssen, gab die Ara sich zufrieden. Zumindest fürs Erste.

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