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„Feli! Feeeeeeeliiiii! Felicia! Jetzt wach doch endlich auf, Frühstück ist fertig! Komm schon, leckere Nutella wartet auf dich", versuchte Julian, mich aus meinem geliebten Bett zu locken.

Murrend zog ich mir meine weiche Decke über den Kopf.
Doch mein kleiner Bruder war erbarmungslos, er hatte immerhin ja auch von der Meisterin – also mir – gelernt.
Mit einem Ruck zog er die Decke von mir weg, woraufhin ich schlagartig die Kälte zu spüren bekam.
Wer, in Gottes Namen, hatte bitte diesen Winter erfunden?

Da ich jetzt aber eh wach war, konnte ich auch genau so gut aufstehen, musste ich feststellen. Unten in der Küche schob mir mein Vater meine Tasse Tee zu, welche ich dankbar annahm. Meine Mutter schmunzelte nur über meinen wohl noch etwas verschlafenen Gesichtsausdruck, obwohl sie selbst auch nicht viel besser aussah.
Nach meinem geliebten Nutellabrot war ich schließlich halbwegs ansprechbar, und ein Schwall kaltes Wasser in mein Gesicht gab der Müdigkeit dann den Rest.
Ein letztes Mal sog ich den Duft aus Henrys Pulli ein, bevor ich ihn etwas traurig zusammen mit der Jogginghose in die Waschmaschine stopfte.

Am nächsten Morgen war ich alleine zu Hause, meine Eltern waren bei der Arbeit, und mein kleiner Bruder musste in die Schule.
Da ich festgestellt hatte, dass die Kleidung schon getrocknet war, zog ich mir kurz noch einigermaßen präsentable Klamotten an, kämmte meine Haare und trug die Minimalversion meines alltäglichen Make-Ups auf (ich wollte Henry nämlich nicht als Zombie gegenüberstehen und ihn komplett verstören) und marschierte quer über die Straße zu seinem Haus.
Nachdem ich auf die Klingel gedrückt hatte, hieß es erst einmal warten. Ich hörte zwar Rumpeln, doch es dauerte einige Minuten, bis Henry etwas desorientiert die Haustür öffnete.

Seine Locken waren zerzaust und hingen ihm in die Stirn, während auf seiner Wange noch ein Kissenabdruck zu sehen war.
Tatsächlich trug er schon Jeans und ein Shirt, sah aber dennoch nicht wirklich wach aus.
„Guten Morgen", gähnte er, während er mich fragend anblickte.
„Morgen, sorry, dass ich dich geweckt habe, das wollte ich nicht", etwas kleinlaut versuchte ich angestrengt, nicht auf den Abdruck zu schauen.
„Wie kommst du darauf, dass du mich geweckt hast? Aber komm ruhig rein", lud Henry mich höflich ein.

Erleichtert, dass er nicht sauer zu sein schien, klopfte ich den Schnee von meinen Schuhen und trat in den Flur.
Dann deutete ich auf seine Wange.
Verwirrt fasste er sich dorthin und blickte in den großen Spiegel an der Wand.
Daraufhin verstand er, was ich meinte.
„Oh", Henrys Wangen nahmen einen gesunden Rotton an, „eventuell war ich tatsächlich noch nicht auf Besuch eingestellt."
Verlegen fuhr er sich durch die Haare.

„Ich wollte dir eigentlich nur dein Zeug wiederbringen", mit diesen Worten streckte ich ihm das Bündel entgegen.
„Ich kann wirklich gleich wieder gehen, wenn es nicht passt und ich störe."
Doch mein Nachbar wank ab.
„Ach, das ist doch Quatsch. Wenn du Zeit hast, kannst du dich gern schon mal in die Küche hocken, du kennst dich ja aus. Ich bin gleich bei dir, nur sollte ich vorher noch kurz das", er deutete kurz auf das Vogelnest auf seinem Kopf, „in Ordnung bringen..."

Bevor ich noch etwas erwidern konnte, war er auch schon verschwunden.
Ich war noch nicht in der Küche angekommen, als ich auch schon ein lautes Poltern, gefolgt von einem Aufkeuchen hörte.
Verwundert ging ich in Richtung dieses Krachs – und sah Henry, welcher schmerzerfüllt seinen Kopf rieb.
Fassungslos sah ich ihn an: „Was, um alles in der Welt hast du gemacht?"

„Die Schranktür war offen", knurrte der Lockenkopf grimmig.
Erst da realisierte ich, dass ich mitten in seinem Schlafzimmer stand, was mir etwas unangenehm war.
Schief grinsend, aber dennoch besorgt erkundigte ich mich: „Geht's? Brauchst du was zum Kühlen?"
Aber Henry schien sich schon wieder erholt zu haben, denn er verneinte tapfer.
Also marschierte ich wieder zurück in die Küche und machte es mir gemütlich.

„Tut dein Kopf noch weh?", fragte ich den Morgenmuffel alias Henry, als er es geschafft hatte, ohne weitere Unfälle in der Küche anzukommen.
„Ich schätze, ich werde es überleben... Willst du auch etwas?", begann er, den Tisch zu decken. „Danke, aber ich hab schon gefrühstückt", musste ich ablehnen.
„Aber ich wollte dich noch was fragen."
Henry deutete mir an, weiterzusprechen, während er denn Mund voll Toast hatte.

„Gibt es irgendetwas, wie ich mich für Samstag revanchieren kann?"
Nachdenklich widmete sich mein neuer Nachbar dem nächsten Brot.
Dabei hellte sich sein Gesicht auf: „Ja, es gäbe da tatsächlich etwas... Ich sollte dringend einkaufen gehen, ich habe fast nichts mehr zu essen da.
Aber ich traue eurem Rechtsverkehr noch nicht so ganz über den Weg.
Wenn du also Zeit hättest, wäre es super von dir, wenn du fahren könntest."

Wow, ein Mann, der sich mal eingestand, dass er nicht immer alles selbst können musste und auch mal Hilfe brauchen durfte?
Ich war beeindruckt.

„Logisch mach ich das, ich hab ja zurzeit keine Vorlesungen.
Wie wäre es denn mit morgen früh? Ich müsste halt rechtzeitig zum Kochen wieder daheim sein, aber das sollte ja normalerweise kein Problem sein", überlegte ich.
„Morgen früh wäre perfekt", sah ich da den Schatten der Erleichterung über Henrys Gesicht huschen?
Bevor ich genauer darüber nachdenken konnte, war es auch schon weg und Henry sprach weiter.
„Möchtest du dann mein Auto nehmen, oder eher nicht? Es ist für den Rechtsverkehr gebaut, das wäre also kein Problem."

Natürlich würde ich gerne mal mit diesem Auto fahren, wann hatte man denn bitte schon die Chance, mit so einem Prachtstück herumzucruisen?
Genau, eigentlich nie.
Aber auch wenn es aufgehört hatte zu schneien, wusste ich aus Erfahrung, dass ich maximal mit fünfzig Stundenkilometer durch zentimeterhohen Schnee schleichen würde.

„Hat es Winterreifen drauf?", begann ich den Sicherheitscheck.
Nach Henrys Nicken fuhr ich fort: „Und ist es Automatik oder Gangschaltung?"
Grübelnd fuhr Henry sich durchs Haar. „Keine Ahnung, um ehrlich zu sein, ich bin noch nie damit gefahren."
Überrascht blickte ich ihn an.

„Ja, ich bin ja erst vor wenigen Tagen hier angekommen, und Schnee und Rechtsverkehr hätten mich echt überfordert, in London bin ich ja eigentlich nie selbst gefahren.
Ich habe zwar meinen Führerschein gemacht, aber irgendwie nie benötigt", zuckte er mit den Schultern.
Wenn ich da dann daran dachte, dass ich meinen achtzehnten Geburtstag sehnlichst herbeigewünscht hatte, um endlich selbst und alleine fahren zu können...
Über die Zugverbindung musste ich ja nichts mehr sagen, Samstagnachmittag sprach da für sich.

Kurze Zeit später saß ich auf dem Fahrersitz des Audis, hatte den Sitz und sämtliche Spiegel eingestellt, während Henry den Schnee vom Dach sowie Scheiben und Spiegeln entfernt hatte. Nachdem ich festgestellt hatte, dass es – Gott sei dank – ein Wagen mit Gangschaltung war, beschlossen wir, das Auto auszutesten (oder zumindest soweit, wie das bei diesen Straßenverhältnissen klappte und noch sicher war).
Schnurrend sprang der Motor an, was ich zunächst etwas bezweifelt hatte, da es ja einige Zeit nur in der Kälte gestanden war.

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