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Am nächsten Tag schneite es immer noch, dicke Flocken fielen vom grauen Himmel. Unwillkürlich spukte mir die Liedzeile „Feels like snow in September" durch den Kopf. Tatsächlich hatte ich den Herbst gar nicht richtig mitbekommen, ich war zu beschäftigt mit Lernen und Vorlesungen gewesen.
Ein Psychologiestudium war eben kein Zuckerschlecken, seufzte ich innerlich.
Über die Hälfte der Fachliteratur war auf Englisch, was das Recherchieren natürlich noch viel spaßiger machte.

Die Musik hingegen war schon immer ein großer Teil meines Lebens gewesen, und so nutzte ich sie auch oft während des Semesters zum Abschalten, Entspannen und Energie ablassen.
Singen war für mich beinahe so normal wie atmen, ich hatte es während meiner Schulzeit sogar einmal geschafft, während einer Mathearbeit anzufangen zu singen – ohne es selbst zu bemerken!
Manchmal war es mir selbst ein Rätsel, wie ich es trotz meiner absoluten Tollpatschigkeit geschafft hatte, so lange zu überleben.

Als es Nachmittag wurde, machte ich mich langsam fertig für das Treffen mit meinen Mädels, ich hoffte nur, mein Zug würde nicht allzu viel Verspätung haben.
Gleichzeitig lauthals „Call me maybe" grölend und Wimperntusche auftragend hüpfte ich äußerst elegant in meinem Badezimmer herum, welches ich mir – oft zu meinem Bedauern – mit Julian teilte.
Wenn wir uns gleichzeitig richten mussten, ging jedes Mal aufs Neue der Kampf um den Platz am Spiegel los.

Heute verhielten wir uns jedoch erstaunlich friedlich, er war mittlerweile aber auch einfach so groß, dass er über mich drüber schauen konnte.
Und dies war bei meinen doch ganz ordentlichen 1,73 doch eine stolze Leistung.
So konnte ich aber ungestört meine nussbraunen Haare kämmen, welche mein recht schmales Gesicht mit den dunkelbraunen, fast schwarzen Augen umrahmten.
Als ich schließlich zufrieden mit meinem Aussehen war, schnappte ich mir noch meine Handtasche, drückte Juli, welcher sich ebenfalls mit Freunden treffen wollte, und meine Eltern, welche auf dem Weg zu einer Familienfeier waren, um die wir uns hatten drücken können.

Mein Bruder würde mit ihnen fahren, da sein Ziel auf dem Weg lag, und wir beide würden auf dem Rückweg von ihnen eingesammelt werden.
Wie so oft steckte ich mir meine Ohrstöpsel in meine Ohren, prüfte noch einmal, ob ich auch meine Fahrkarte dabei hatte und marschierte los.
Auf der kompletten Straße lag Schnee, alles sah aus, wie in Zuckerwatte gehüllt.
Grinsend fing ich mit meiner Zunge eine Schneeflocke auf und betrachtete staunend den Schneemann im Garten der Schneiders, welchen wohl Natalie gebaut haben musste.
Passend zum Wetter spielte mein Handy nun auch noch „Let it snow" ab, weshalb es nun kein Halten mehr gab.
Fröhlich sang ich lauthals mit, meine Nachbarn waren das sowieso von mir gewohnt.

Ob ich gut singen konnte oder nicht, darüber konnte man sich streiten.
Ich fand meine Stimme nicht sonderlich außergewöhnlich, mir machte es halt einfach Spaß. Und ich merkte meistens, wenn ich falsch sang, was ja auch schon mal ganz positiv war.

Am Bahnhof angekommen, stellte ich mich unter das kleine Dach und wartete. Und wartete. Und... genau, ich wartete.
Langsam wurde es mir ziemlich kalt, ich spürte meine Füße schon beinahe nicht mehr, weshalb ich begann, auf der Stelle zu hüpfen.
Würde dich jetzt jemand sehen, würde er dich sofort in die Klapse einweisen!, schoss es mir durch den Kopf. Aber hey, normal war doch langweilig.
Und außerdem sah mich auch keiner, immerhin befand ich mich hier in Kirchwald.

Ich wusste noch aus meiner Schulzeit, dass Verspätungen bis zu einer halben Stunde durchaus normal waren und auch öfter vorkamen, als es mir lieb war.
Trotzdem hatte ich ein ungutes Gefühl im Bauch – und nein, ich hatte keinen Hunger.
Fröstelnd zog ich meine Schultern hoch, doch das brachte schon lange nichts mehr.

Nach gefühlten Stunden, in denen ich mich fragte, ob es physikalisch möglich war, am Boden festzufrieren, tauchte auf der hochmodernen digitalen Anzeige eine Meldung auf.

Meine erste Freude über ein Lebenszeichen der Bahnmenschen schlug aber innerhalb von Sekunden in Fassungslosigkeit um.
Alle Züge, die heute fahren sollten, würden ausfallen.
Zu viel Schnee, zu viel Kälte – der Diesel war vermutlich versulzt – und das Internet verriet mir, dass auch noch ein Baum auf die Schienen gefallen war.
Ja, Halleluja, das nannte ich aber mal eine geballte Ladung Pech!
Traurig und enttäuscht sagte ich meinen Freundinnen ab und machte mich frustriert auf den glücklicherweise nicht allzu langen Heimweg.

Zum Singen war meine Laune mittlerweile aber zu weit im Keller.
Zu Hause angekommen, sah ich, dass der Rest meiner Familie wohl schon unterwegs war und holte meinen Schlüssel aus meiner Jackentasche.
Beziehungsweise... ich wollte meinen Schlüssel aus meiner Jacke holen.

Wie gewohnt griff ich in meine linke Tasche, doch außer ein paar leeren Kaugummipapierchen war da nichts.
Irritiert fasste ich in meine rechte Tasche.
Dort befanden sich Lutschbonbons, zehn Cent und eine Kastanie (was auch immer die dort trieb), aber definitiv kein Schlüssel.
Panisch öffnete ich meine Handtasche, durchwühlte alle Fächer, kam aber zum gleichen Resultat.
Jede Menge unnötiger Kram flog dort drinnen herum, aber mein Schlüssel befand sich in meinem Rucksack.
Der in meinem Zimmer stand.
Welches in unserem Haus zu finden war.
Und dieses war abgeschlossen, und ich konnte nicht hinein, weil mein Schlüssel in meinem verdammten Rucksack war!

Dazu kam, dass ich mich bei minus zwei Grad draußen nicht wirklich wohl fühlte. Ich war eine absolute Frostbeule, meine Komforttemperatur befand sich zwischen fünfundzwanzig und dreißig Grad!
Verzweifelt rannte ich dreimal um unser Haus herum, musste feststellen, dass selbst die Garage abgeschlossen war und verfluchte meine Eltern, dass sie nicht, wie in jedem Film dargestellt, einen Ersatzschlüssel unter einem Blumentopf deponiert hatten.
Wütend pfefferte ich einen Schneeball gegen die Hausmauer.
Kurz darauf folgte ein zweiter, in Kombination mit einem Schwall aus Schimpfwörtern.

„Herrgott" – Schneeball- „nochmal, warum muss das ausgerechnet mir" – Schneeball – „an ausgerechnet diesem verfluchten Tag" – Schneeball – „passieren?!? Verdammte" – Schneeball – „Scheiße! Himmel nochmal! Fuck!" – Schneeball – „Mierda! Putain de merde! Zut!" – Schneeball – „Womit habe ich das denn nur verdient?"

Gerade als ich mit dem nächsten Eisgeschoss ausholte, wurde ich von einer zugegebenermaßen etwas verunsichert klingenden Stimme unterbrochen.

„Hi, ähh, ist alles okay bei dir?"

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