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„Im Kramer-Haus ist jemand eingezogen!", schallte es mir anstatt einer Begrüßung entgegen, sobald ich im Flur stand.
Mein kleiner Bruder Julian (der mittlerweile zwar nicht mehr unbedingt so klein war, aber für mich immer mein Knirps bleiben würde), schlidderte auf Socken übers Parkett.
Erstaunt blickte ich ihn an. „Der Engländer? Aber der hat das Haus doch schon vor fast zwei Jahren gekauft, alles renovieren lassen, sich selbst aber nie hier blicken lassen?"
„Keine Ahnung, aber auf jeden Fall steht ein Auto vor der Tür, die Lichter sind an und man erkennt eine Silhouette", bekam ich prompt Auskunft.

Nein, Juli war kein Stalker, das alte Kramer-Haus befand sich aber beinahe gegenüber von unserem Haus und da in diesem Dorf nie etwas passierte, war es schon ein Highlight, wenn Hilde zwei Straßen weiter die Bettwäsche wusch.
Somit war es kein Wunder, dass über diesen erstaunlichen Hauskauf viel getratscht worden war und alle dementsprechend neugierig waren.

„Wo stecken denn eigentlich Mama und Papa?", stellte ich nun die nächste Frage, während ich meine schneebedeckte Mütze vom Kopf zog.
Endlich waren meine vorlesungsfreien Tage da, weshalb ich schnurstracks mit dem nächsten Zug in Richtung Heimat gependelt war.
Nach etlicher Verspätung war ich dann auch am heimischen Bahnhöfchen angekommen, von wo ich durch den fallenden Schnee nach Hause gestapft war.
Mich hatte niemand abholen können, da unsere Eltern – wie ich jetzt erfuhr – einkaufen gefahren waren.

Fröstelnd rieb ich mir die Hände und ging zur Küche, um mir einen warmen Tee zu machen. „Willst du auch einen?", wandte ich mich an meinen 14-jährigen Bruder.
Dieser schüttelte nur abwesend den Kopf, er stand schon wieder am Fenster und blickte auf das etwas windschiefe Fachwerkhaus.
Ein Blick hinüber bestätigte mir, dass dort wirklich Licht brannte, mehr konnte ich nicht erkennen.

Einerseits verstand ich ja seine Faszination.
Auch ich hatte mir jahrelang gewünscht, etwas würde passieren, den trägen Dorftrott etwas aufmischen.
Jetzt jedoch verbrachte ich den Großteil meiner Zeit an der Uni und auf dem Campus, wo immer etwas los war.
Mit der Zeit stumpfte man da etwas ab, wenn ich an den Wochenenden heimkam, genoss ich die Ruhe, wohlwissend, dass ich bald schon wieder Action erleben konnte.

So ließ ich Juli in der Küche stehen und marschierte in mein Zimmer, den dampfenden Tee in der Hand.
Dick eingemummelt in meinen Kuschelteppich machte ich es mir auf meinem Bett bequem und nahm mein Handy zur Hand.
Nicht nur ich hatte die nächste Zeit frei, sondern auch viele meiner alten Schulfreunde, was die Gelegenheit war, sich endlich mal wieder zu treffen.
Unser Abi war zwar schon zwei Jahre her, und mit den meisten aus meiner alten Stufe hatte ich auch nichts mehr zu tun, aber mit meinen engsten Bekannten war ich in Kontakt geblieben.

Noch bevor ich die Chance hatte, eine Nachricht zu tippen, ploppte auch schon eine auf meinem Bildschirm auf.

Heyyy Feli, wie siehts aus? Die nächsten Tage mal wieder was trinken gehen? (Ich akzeptiere nur ein Ja!)

Clara hatte wohl den gleichen Gedanken gehabt wie ich, was mich unwillkürlich zum Grinsen brachte.
Schnell sagte ich zu, so etwas konnte ich mir keinesfalls entgehen lassen.
Wir beschlossen, zusammen mit Selina und Mia den Weihnachtsmarkt in der kleinen Stadt, in der wir alle zur Schule gegangen waren, unsicher zu machen.
Dort konnte man zwar eigentlich nur Schlittschuhlaufen, essen und Glühwein trinken, aber das war uns egal.
Zu viel Nostalgie hing an diesem Ort, und ich wusste schon jetzt, dass es definitiv nicht langweilig werden würde.

Beim gemeinsamen Familienabendessen präsentierte Juli stolz die Ergebnisse seiner Detektivarbeit.
Von Paul hatte er erfahren, dass der Hauseigentümer wohl sehr jung sein solle (da Paul aber selbst schon an den achtzig kratzte, war für ihn alles unter fünfzig jung), außerdem sei er männlich.
Herbert hatte haarscharf kombiniert, der Engländer sei reich, wer kaufe sich denn sonst in solch jungem Alter (auch Herbert war schon über siebzig) einfach mal so ein Haus.

Ja, mein Bruder hatte sehr vertrauenswürdige Quellen, das war schon mal zu einhundert Prozent klar.
Der Aspekt, dass der Fremde einen Audi fuhr, war nicht zu widerlegen, das Modell war aber aufgrund des Schnees nicht zu erkennen.
Amüsiert über den Eifer meines Bruders stellte ich mir schon vor, wie er mitten in der Nacht, bewaffnet mit Notizblock, Lupe und Taschenlampe über die Straße schlich, um das Auto in aller Ruhe zu begutachten.
So hätte zumindest mein vierzehnjähriges Ich gehandelt... Aber nun war ich stolze zwanzig Jahre jung und definitiv aus diesem Alter raus!

Auch während dem Film, mit welchem Juli und ich den Freitagabend bestritten, quasselte er beinahe nonstop von unserem neuen Nachbarn, zumindest bis ich ihm androhte, seinen Mund mit Panzertape zu versiegeln.
Da gab er endlich einigermaßen Ruhe.

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