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Draußen war es schon früh dunkel geworden, weshalb wir einfach einige Kerzen angezündet hatten.
Das sanfte Flackern der Flammen warf verzerrte Schatten an die Wände, es herrschte eine angenehm beruhigte Atmosphäre.
Ich hätte für immer hier sitzen bleiben können, den fallenden Schnee betrachtend und mich leise mit Henry unterhaltend.

Leise gestand ich ihm meine Angst vor dem hohen Erwartungsdruck vieler Menschen, während er mir von seinem fast krampfhaften Verlangen nach Privatsphäre erzählte.
Ernste Themen besprachen wir mit einer Leichtigkeit, die von selbst entstanden war. Banalitäten hingegen erörterten wir so gründlich, dass es fast schon lächerlich wurde – aber das wurde es nicht.

Viel zu schnell wurden wir von der Türklingel unterbrochen.
„Ich wette, das ist mein Bruder", landete ich wieder in der Realität.
„Meinst du, er wird mich so lange löchern, bis er alles über mich weiß?", fragte Henry gespielt verängstigt.
Ich hatte ihm auch von dem Wirbel erzählt, welchen er hier ausgelöst hatte, was ihn doch sehr amüsierte.
Ernst nickte ich. „Wahrscheinlich hat er Diktiergerät und Videokamera schon gezückt und wartet nur darauf, dass irgendjemand die Tür öffnet", antwortete ich, ohne meine Miene zu verziehen.

Doch kaum blickte ich in Henrys Gesicht, konnte ich nicht mehr und prustete haltlos los.
Dieser stimmte in mein Lachen ein, während wir zur Tür gingen.
Ich sammelte noch kurz meine Sachen ein und umarmte dann kurz Juli, welcher wie erwartet neugierig hereinspähte.
„Ich bring dir deine Kleidung dann demnächst mal vorbei, ja?", lächelte ich Henry an.
Dieser erwiderte, ebenfalls lächelnd: „Mach das, ich schätze, wir laufen uns noch öfter über den Weg..."

Schweigend überquerten Juli und ich die Straße, doch dann hielt er es nicht mehr aus: „Und, wie ist er so?"
„Wer?", stellte ich mich dumm, wofür ich einen Stoß in meine Seite erhielt.
„Du weißt schon wer!", provozierte mein Bruder meine nächste Antwort.
„Ach so, der, sag das doch gleich... Ja, ziemlich blass, rote Augen, ein echt ekelhafter Typ. Eine Maniküre würde ihm nicht schaden und über seinen Kleidungsstil kann man auch streiten. Außerdem ist er ein ziemlicher Arsch weil-"

„Herrgott Felicia! Ich rede nicht von Voldemort, und das weißt du! Jetzt los, erzähl!", reagierte Juli etwas gereizt.
„Okay okay", lenkte ich ein und öffnete das Garagentor, „er scheint ganz nett zu sein, ein ganz normaler Mann eben."
„A-ha", antwortete Julian gedehnt. „Und warum hast du seine Klamotten an?" „Schneeballschlacht", gab ich knapp Auskunft und ging in die Küche, um unsere Eltern zu begrüßen.
„Nicht dein Ernst", hörte ich Juli noch grummeln, ehe nach oben in sein Zimmer verschwand.

„Du bist auch echt das einzige Mädchen, das auch nur daran denkt, ihm seine Kleidung zurückzugeben!", lachte Clara, welcher ich per Videochat erstmal alles erzählt hatte.
Durch ihr Musikstudium verbrachte sie die meiste Zeit weit weg, deshalb sahen wir uns extrem selten, aber wir kannten uns schon fünfzehn Jahre lang und waren auch ungefähr so lange schon beste Freundinnen.
Fehlende gemeinsame Zeit kompensierten wir mit Nachrichten und Telefonaten und hielten so die jeweils andere auf dem Laufenden.

„Ich klaue doch keine Kleidung!", protestierte ich.
„Dann hält er mich am Ende noch für eine Kleptomanin oder so!"
„Uuuuhh, dir ist also wichtig, was er über dich denkt?", grinste Clara. Genervt verdrehte ich die Augen.
„Ja, ist es, weil er jetzt mein Nachbar ist und ich eine gesunde Nachbarschaft führen will. Punkt.", stellte ich klar.
„Ja, klar, da reden wir später nochmal drüber", Clara wackelte vielsagend mit ihren Augenbrauen.
„Aber wie ist er denn so?"

„Genau das hat Juli mich auch schon gefragt. Sicher, dass er nicht dein kleiner Bruder ist?", scherzte ich.
„Felicia Annelie Hofer! Lenk. Nicht. Vom. Thema. Ab!", blickte sie mich böse an.
„Ich weiß noch nicht so genau, was ich von ihm halten soll", gestand ich leise.
Meine beste Freundin blickte mich fragen an. „Inwiefern das?"

Zögernd knabberte ich an meinem Fingernagel.
„Ich weiß nicht genau, wie ich es erklären soll. Einerseits ist er mega nett, höflich, zuvorkommend, hilfsbereit – ich meine, er hat mich vor dem Kältetod gerettet – und wir haben so viel geredet.
Ich hatte das Gefühl, ihn schon ewig zu kennen, es hat eine so vertraute Atmosphäre geherrscht... Aber andererseits fühlt es sich so an, als ob er etwas zurückhält.
Also, klar, dass man einer Fremden nicht sofort seine komplette Lebensgeschichte erzählt, aber es fühlt sich so an, als würde er extrem viel zurückhalten...
Und manchmal ist so, als ob er, bevor er spricht, jedes Wort genauestens überdenkt."

Einige Sekunden herrschte Stille.
„Da ist noch was, oder?", erkannte Clara zielsicher.
„Er kommt mir irgendwie so bekannt vor. Ich könnte schwören, ich habe ihn schon hundertmal gesehen, aber das wüsste ich doch, oder?"
„Normalerweise ja schon... wie heißt er nochmal?"
„Stones. Henry Stones", meinte ich. „Gut. Gib mir ein paar Sekunden..."

Schon war Clara verschwunden.
„Also Google hat mir nur einen alten Mann mit Bart geliefert, der vor fünf Jahren gestorben ist... Ich nehme an, das ist er nicht?", fragte sie trocken.
Lachend schüttelte ich den Kopf.
„Auf mich hat er eigentlich ganz lebendig gewirkt."

„Aber wie sieht er denn jetzt aus? Vielleicht sieht er ja nur irgendjemandem, den du – oder wir, da wir ziemlich die gleichen Leute kennen, ausgenommen einige Unitypen, wobei ich selbst von denen den Großteil kenne, da ich von den relevanten Leuten entweder ein Bild gesehen habe oder sie persönlich getroffen habe-"
„Gott, Clara, mach mal nen Punkt!"
Diese Frau machte ihrer Gabe, ohne Punkt und Komma zu quasseln, mal wieder alle Ehre.
Nicht, dass ich das nicht auch manchmal tat, neiiiin. Ich doch nicht.

„Vielleicht sieht er jemandem ähnlich", beendete Clara etwas kleinlaut ihren Satz.
„Also, er hat dunkelbraune Locken. Nicht kurz, nicht lang, so irgendwas dazwischen", selbst mir fiel auf, wie schlecht ich doch im Menschen beschreiben war, und Claras Augenverdrehen nach war es ihr wohl auch nicht entgangen, „und er hat grüne Augen. Ich meine, wirklich grün-grün. Er ist ein gutes Stück größer als ich, vielleicht so um die zehn Zentimeter.
Außerdem hat er mindestens ein Tattoo, auf seinem Handrücken, ein Kreuz.
Kommt dir irgendwas davon bekannt vor?"

Clara schüttelte langsam den Kopf.
„Nein, gar nicht. Ich denke, du musst dich täuschen, oder du hast mal irgendwo in einer Stadt oder so jemanden gesehen, der ähnlich aussieht und dich daran erinnert."
„Das kann ja schon sein", ich musste ihr Recht geben, „aber es fühlt sich nicht so an!" „Stichhaltige Argumentation, Feli, Respekt", spottete Clara, woraufhin ich jetzt meine Augen verdrehte.
„Weißt du, was ich glaube?"
Ich verneinte, gespannt darauf, was jetzt kommen würde.
„Er ist genau dein Typ. So, wie du ihn beschrieben hast, sieht er auch noch ganz gut aus. Dir ist seine Meinung wichtig – Schatz, er wäre für dich der perfekte Typ Mann zum Verlieben.
Ihr könnt miteinander reden, du fühlst dich wohl bei ihm.
Aber wegen dem Drama mit deinem Ex sucht dein Unterbewusstsein nach irgendeinem Makel, damit du dich eben nicht in ihn verliebst. Na, was sagst du dazu?"

„Ich sage dazu, dass ich jetzt wieder weiß, warum ich diejenige von uns bin, die Psychologie studiert", ach, Sarkasmus würde immer mein bester Freund bleiben.
Clara streckte mir höchst erwachsen die Zunge heraus.
„Jaja, glaub mir nur nicht. Aber du wirst sehen, dass ich Recht habe!"

Als ich kurze Zeit später in meinem Bett lag, ließ ich den Tag nochmals Revue passieren.
Clara hatte in gewisser Hinsicht schon Recht.
Er war wirklich genau der Typ Mann, in den ich mich verlieben würde.
Ich konnte nicht bestreiten, dass er attraktiv war, ich wollte mich nämlich definitiv nicht selbst belügen.
Aber trotz allem hatte ich da so ein Gefühl. Und das hatte wirklich nichts mit meinem Exfreund zu tun, diesen hatte ich abgehakt.
Wirklich und wahrhaftig.
Lange genug hatten mich die Gedanken an ihn gequält, doch irgendwann hatte auch ich es geschafft, einen Schlussstrich zu ziehen.

Mein Herz war wieder verheilt, die Narben kaum mehr sichtbar, und ich würde keinesfalls zulassen, dass die Vergangenheit über die Gegenwart und Zukunft bestimmte.
Gefühlte Ewigkeiten wälzte ich mich von links nach rechts und von rechts nach links, bis ich schließlich in einen traumlosen Schlaf fiel.

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