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„Gott, du siehst heute aber echt fertig aus!", waren die ersten Worte des bezaubernden Blondchens dann an mich.
Verdrossen schenkte ich ihr nur einen warnenden Blick, doch diesen übersah meine beste Freundin geflissentlich. Gut, es hätte mich auch gewundert, wenn sie es nicht getan hätte, aber einen Versuch war es wert gewesen.

„Ich muss dir was erzählen", Clara knibbelte unruhig die Reste ihres dunkelblauen Nagellacks ab.
„Ich dir auch – wer soll anfangen?", ich holte vorsorglich schon mal eine Packung Kekse, bevor ich mich zu ihr auf mein Bett fallen ließ. „Darf ich?", sie konnte es wohl kaum erwarten, weshalb ich nickte. Andernfalls würde Clara noch platzen.

„Ich weiß, es hört sich jetzt vielleicht erstmal krass an, aber es ist eine einmalige Chance und ich bin schon so aufgeregt deswegen und kann es auch irgendwie kaum noch erwarten-"
„Jetzt sag schon!", unterbrach ich sie schmunzelnd.
„Ich wurde im Sinfonieorchester angenommen.", freudestrahlend sah sie mich an.
„Wow, Clara, das ist ja super. Glückwunsch!", fest nahm ich sie in meine Arme.

„Das war noch nicht alles, Feli. Ich wurde im Sinfonieorchester Londons angenommen und werde dorthin gehen."

Fassungslos schaute ich sie an.
Wollte Clara mich grade verarschen? Aber nein, so sah sie nicht aus.
Ihre Augen funkelten, ich hatte sie schon lange nicht mehr so glücklich gesehen.
Als eine gute beste Freundin müsste ich mich jetzt eigentlich für sie freuen. Und das tat ich auch, irgendwie zumindest. Ich gönnte ihr den Erfolg wirklich.

Trotzdem brach ich in Tränen aus. Sie liefen mir in Sturzbächen über die Wangen und vor lauter Schluchzen brachte ich kein normales Wort mehr heraus.
Clara sah mich verdattert an, mit so einer Reaktion hatte sie wohl wirklich nicht gerechnet. Doch sie zog mich gleich in ihre Arme, strich mir sanft über den Rücken und gab mir die Zeit, die ich benötigte, um mich wieder halbwegs zu beruhigen. Dann drückte sie mir einen Keks in die Hand und meinte: „Ich werde dich ja auch vermissen, aber ich bin nur einen kurzen Flug entfernt."

Schniefend boxte ich ihr in die Seite. „Du bist blöd!" „Ich hab dich auch lieb, Felicia."
Auch sie nahm sich jetzt einen Keks. Schweigend knabberten wir daran, ich musste all das erst mal sacken lassen.
Und Clara wartete geduldig.
Schließlich hatte ich mich wieder gefasst.

„Es tut mir leid, ich freue mich wirklich für dich. Aber es war gerade alles etwas viel, und dann auch noch das vermaledeite London..." „London?", hakte Clara sanft nach.

„Ich muss weiter vorne anfangen. Es ist eine längere Geschichte.", begann ich zu erzählen.
„Das Erste, das du wissen musst: Ich bin mit Henry", ich stockte kurz bei diesem Namen, „zusammen. Bevor du fragst: Seit Neujahr. Aber ich wollte dir das persönlich sagen und nicht nur ne Nachricht schreiben.
Das Zweite: Henry kam mir so bekannt vor, weil er nicht Henry heißt. Er heißt Harry. Harry Styles. Und ja, wir reden hier von dem Harry Styles.
Und das Dritte: Er muss zurück nach London, und ich bin hier und ich weiß nicht, wie ich es ohne ihn aushalten soll."

Clara schluckte. Sie zwickte sich selbst in den Arm, stellte wohl fest, dass sie wach war und schluckte nochmals.
Dann zog sie mich wieder in eine Umarmung. „Oh wow. Damit hätte ich echt nicht gerechnet", gab sie zu.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll", gestand ich leise. „Ich möchte ihn nicht gehen lassen, aber ich kann mir auch nicht wirklich vorstellen, mit ihm mitzukommen."
„Was hält dich denn davon ab, mitzukommen?"
„Naja, ich studiere eigentlich. Hier ist mein komplettes Leben, meine Familie und meine Freunde und irgendwie alles. Ich meine, wo sollte ich denn dann wohnen? Was, wenn ich alles für ihn aufgebe und es hinterher bereue?"

Clara verzog nachdenklich das Gesicht.
Doch dann hellte ihre Miene sich auf.

„Feli! Punkt eins, studieren: Deine Uni ist doch sogar für ihre Austauschprogramme und so bekannt – sicher würde das auch mit London funktionieren.
Punkt zwei: Dass du nicht von ihm abhängig sein willst, klar, verstehe ich. Aber das bringt mich zu Punkt drei: dem Wohnen. Ich bekomme eine Wohnung zu einem relativ niedrigen Preis gestellt, du könntest auch zu mir ziehen. Und wenn du die meiste Zeit bei ihm verbringst, ist das ja auch egal, aber du hast dann immer einen Ort wo du mal hingehen kannst, wenn du Abstand von Harry brauchst.
Und Punkt vier: Deine Familie und die Anderen kannst du ja ab und an besuchen, es gibt Skype, WhatsApp und auch Telefone.
Und Punkt fünf: Seit wann gehöre ich nicht mehr zu deinen Freunden?"

Geschockt starrte ich sie an. „D-Du, du, du bist verdammt noch mal ein Genie, Clara!"

Konnte es wirklich so einfach sein?

Es konnte!

Sowohl Harry als auch meine Eltern waren von dieser Lösung begeistert – und ich war es auch. In den darauffolgenden beiden Wochen hetzte ich zwar von einem Büro ins nächste, bequatschte sämtliche Sekretärinnen, erfand verzweifelte Argumente, warum der Uni-Austausch in so kurzem Zeitraum vonstatten gehen musste und verzweifelte fast über den Stapeln an Papierkram, doch ich war überglücklich.

„Darf ich Sie etwas fragen?", mein Gegenüber schob sich die Brille weiter nach oben.
Wie er hieß, hatte ich leider schon wieder vergessen, ich hatte schon mit zu vielen seiner Art in den letzten Tagen gesprochen.
Mittfünfziger, mit leichtem – manchmal auch stärkerem – Bierbauchansatz und lichtem Haar.
Nach Kaffee riechender Atem, die um den Hals hängende Krawatte etwas schief.
„Natürlich", mein höfliches Lächeln fühlte sich an wie festgetackert.

„Sie haben mir eine wunderschöne Geschichte erzählt, wie sehr sie doch die englische Kultur schätzen und gerne selbst am eigenen Leibe erleben möchten.
Jetzt, da der Wechsel an die Roehampton genehmigt wurde, würde mich die Wahrheit interessieren. Sie können mir nämlich nicht weismachen, dass dieses kulturelle Interesse vor zwei Wochen urplötzlich aus heiterem Himmel erwacht ist."

Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss.
Doch mein Lächeln wurde echter, als ich ehrlich antwortete.

„Die Liebe ist schuld an diesem plötzlichen kulturellen Interesse", gestand ich. „Mein Freund muss überraschenderweise nach London und ich konnte ihn nicht gehen lassen."
„Dann wünsche ich Ihnen alles Gute in London, Frau Hofer. Genießen Sie die kulturellen Erfahrungen in vollen Zügen und essen Sie eine Portion Fish and Chips für mich mit." Mit einem Zwinkern schüttelte er noch meine Hand und öffnete dann die Tür.

„Du weißt aber, dass du auch einfach bei mir einziehen könntest?"
„Ich weiß, aber das Thema hatten wir doch schon. Ich möchte-" „Du möchtest nichts überstürzen, und das ist auch vollkommen okay so. Ich wollte das nur nochmal klarstellen.", kam es von meinem Bett.
Dort lag mein Handy, ich hatte es - und damit Harry - auf Lautsprecher gestellt, während ich mit meinem Oberkörper im Schrank hing und meine Sachen packte.

Unglaublich, was ich während der vergangenen Semester ins Wohnheim geschleppt hatte. Fasziniert betrachtete ich ein Oberteil, bei welchem ich mich nicht daran erinnern konnte, es jemals gekauft zu haben.
Aber schlecht sah es nicht mal aus, soweit ich das erkennen konnte. Es war nämlich leicht zerknittert, was wohl der Tatsache, dass es in der hintersten Ecke des Schrankes zusammengeknüllt auf dem Boden lag, geschuldet war.
Ich beschloss einfach, dass wenn es schon in meinem Schrank lag, auch mir gehören musste.
Verschollen geglaubte Haargummis meldeten sich zurück und ich entdeckte ein T-Shirt meines Bruders, welches er letzten Sommer wochenlang gesucht hatte.
Ich hatte damals Stein und Bein geschworen, es nicht verschleppt zu haben.

Nachdem ich mich von Tabby verabschiedet hatte und mit meinem Kram in Kirchwald angekommen war, erwartete mich das gleiche Packchaos zu Hause – nur in noch größerem Ausmaß.
Was sollte ich alles mitnehmen und was nicht? Heimlich schmuggelte ich das T-Shirt in Julis Kleiderschrank zurück, sortierte meine Sachen, sortierte sie wieder neu, weil ich mit der Ordnung nicht zufrieden war und rannte wie ein kopfloses Huhn durch die Gegend.

Harry hatte es da deutlich entspannter, er hatte einen Großteil seiner Sachen eh in London. Doch nach einigen Tagen wurde es immer strukturierter und geordneter.

Meine Sachen waren in Kartons und Koffer gepackt und ich war bereit.

Bereit für das große Abenteuer London, England.

Denn ich wusste, ich würde es nicht alleine antreten.

Harry war an meiner Seite und Clara würde mir immer Rückendeckung geben.

Jaaa, so einfach lösen sich die Probleme manchmal. Und dazu braucht es nur einige Zufälle (oder nette Autoren ;) ). Hoffen wir einfach mal, dass dieses Glück anhält...

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