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Unsere trübsinnige Stimmung sollte den ganzen Abend nicht besser werden, wie auch?
Eng umschlungen lagen wir da, nicht gewillt, den anderen loszulassen – weder heute noch in wenigen Wochen.
Mein Kopf lag auf Harrys Oberkörper und ich konnte dem Klang seines Herzens lauschen.
Seine Arme um mich, sein Duft in meiner Nase und sein Herzschlag in meinem Ohr – hier fühlte ich mich zuhause.

Wie sollte ich ihn gehen lassen?
Es erschien mir unmöglich.
Doch wie sollte ich mitkommen?
Die Situation schien ausweglos.

Immer wieder fanden unsere Lippen den Weg zueinander, als würden sie magnetisch voneinander angezogen.
Irgendwann zogen wir von der Couch im Wohnzimmer in das Bett im Schlafzimmer um, doch weder Harry noch ich dachten gerade auch nur im Geringsten an Sex.
Im Gegenteil, dafür hatten wir gerade definitiv keinen Kopf.
Unsere Küsse und Berührungen blieben sanft, wir kosteten einfach die Gegenwart des Anderen in vollen Zügen aus. 
Wieder und wieder küsste Harry meine Tränen weg, während er selbst damit kämpfte.

In dieser Nacht tat ich kaum ein Auge zu, mein Lockenkopf genauso wenig.
Dementsprechend gerädert sahen wir am nächsten Morgen auch aus, doch das war unsere geringste Sorge. Gemeinsam frühstückten wir noch, bevor ich dann wieder nach Hause ging. Nach Hause... vielmehr zu dem Haus, in welchem ich wohnte.
Mein Herz war nämlich bei Harry daheim. Das war mir in dieser Nacht mit erschreckender Deutlichkeit klar geworden.

Aber noch immer kämpften in meinem Inneren mein Herz und mein Gehirn miteinander.
Ich hatte immer eine selbstbestimmte, unabhängige Frau sein wollen.
Ich hatte aber auch immer lieben wollen.
Und jetzt hatte ich ihn gefunden, denjenigen, dem ich meine Liebe schenken wollte.

Während mein Kopf eine lange Liste von Argumenten produzierte, hatte mein Herz nur ein einziges Argument: „Du liebst ihn. Auch wenn du es ihm noch nicht gesagt hast – du liebst ihn." Jedoch hatte dieses eine Argument sehr viel Gewicht.

Trübsinnig brütete ich über einer Tasse Tee, als sich meine Mutter zu mir in die Küche wagte und sich zu mir setzte.
„Und, war's schön bei Harry?", sie grinste mich neckisch an.
Erst dann schien ihr meine Stimmung aufzufallen.
„Was ist passiert, Mäuschen?"
Geknickt antwortete ich: „Er muss zurück nach London. In weniger als vier Wochen." Nachdem ich Mama die ganze Geschichte erzählt hatte, blickte sie mich prüfend an. „Was willst du jetzt tun?"
Erstaunt hob ich den Kopf: „Was soll ich denn tun? Was würdest du an meiner Stelle machen?"Während sie nachdachte, bereitete meine Mutter sich ebenfalls einen Tee zu.
Dann antwortete sie mir langsam und bedacht.

„Du kannst ihn entweder gehen lassen oder mit ihm mitgehen.
Ich sage nicht, dass ich begeistert wäre, wenn du nach London abtauchst, aber die Frage ist, ob du ihn gehen lassen kannst?
Ich weiß nicht, was ich an deiner Stelle täte, aber ich denke, es ist wichtig, dass du dir klar machst, dass es kein Richtig und kein Falsch gibt. Triff die Entscheidung für dich selbst und finde deinen Weg."

Wow, eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass meine Mutter mich zwar bedauern würde, aber nicht, dass sie mir quasi freistellen würde, nach London zu gehen.
Natürlich war ich volljährig, aber das hielt Eltern bekanntlich selten davon ab, ihren Senf zu allem dazuzugeben.
Und solange Mama und Papa noch meine Studiengebühren bezahlten, hatten sie – wie sie gerne betonten – noch ein Wörtchen mitzureden, was ich tat.
Deshalb hakte ich auch nach. „Warum ziehst du in Betracht, dass ich nach England gehe? Versteh' mich nicht falsch, aber damit hatte ich echt nicht gerechnet."

Meine Mutter lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und lächelte versonnen.
„Du weißt doch, dass dein Vater und ich zwei, drei Jahre in Italien verbracht haben?" Mit einem Nicken bestätigte ich es.

„Gut, aber was du vielleicht nicht weißt, ist, dass meine Situation damals deiner nicht unähnlich war.
Dein Vater hatte eine Stelle dort in Aussicht und wollte unbedingt in Richtung Süden. Und ich? Ich war jung, war verliebt und wollte nicht ohne ihn sein.
Aber meine Eltern, deine Oma und dein Opa, hatten keinerlei Verständnis für mich. Ich solle doch vernünftig sein, hieß es, wer mir nur diese Flausen in den Kopf gesetzt habe.
Liebe, das sei doch nur Schall und Rauch, vor allem in meinem Alter.
Aber ich konnte ihn nicht gehen lassen.
Also bin ich in einer Nacht- und Nebelaktion mit ihm ab nach Venedig.
Oma und Opa habe ich dann nach unserer Ankunft dort eine Postkarte geschickt.
Ich war glücklich in Venedig, und im Nachhinein betrachtet war es die beste Entscheidung. Immerhin haben Martin und ich dann sofort nach unserer Rückkehr nach Deutschland geheiratet.
Trotzdem hatte ich die ganze Zeit über ein Stück weit ein schlechtes Gewissen. Und das möchte ich dir ersparen. Ich möchte, dass du, selbst wenn alles schief gegangen ist, ohne ein flaues Gefühl im Magen nach Hause zurückkommen kannst.
Damals habe ich mir geschworen, sollte ich je ein Kind haben, das vor einer ähnlichen Entscheidung steht, möchte ich ihm keine Steine in den Weg legen. Also – entscheide dich, wie du willst. Du bist alt genug, um selbst zu entscheiden und gleichzeitig bist du noch jung genug um Fehler zu machen ohne dass es deine letzte Chance sein wird."

Sprachlos saß ich da. Ich hatte nie gedacht, dass meine Mutter einmal so eine rebellische Ader hatte. Ich meine, sie bügelte unsere Geschirrtücher, ordnete die ungebrauchten Blumentöpfe nach Farben und wenn jemand ihre heißgeliebte Küche ins Chaos stürzte, der sollte besser die Beine in die Hand nehmen.
Doch für einen Moment sah ich die junge Frau vor mir sitzen, welche meine Mutter einst gewesen war.

Die für ihr Glück alles riskierte und deswegen verdammt mutig war.

Die sich gegen den Willen ihrer Eltern für die Liebe entschied.

Und die ein Abenteuer erleben wollte.

Wie viel von dieser Frau steckte auch in mir? Ich wusste es nicht.

„Lass dir Zeit bis du dich entscheidest. Tu das, was sich richtiger anfühlt. Und bitte – gib uns Bescheid, und schick nicht nur eine Postkarte, wenn du angekommen bist."
Mit einem Zwinkern drückte Mama meine Hand, stand dann aber auf und verließ die Küche wieder.

In Gedanken versunken fuhr ich mit meinem Zeigefinger die Maserung der Tischplatte nach, als sich mein Vater zu mir gesellte.
„Deine Mutter hat mit mir geredet", begann er. „Schön, dass ihr nach zweiundzwanzig Jahren Ehe und vierundzwanzig Jahren Beziehung noch miteinander redet", erwiderte ich nur trocken. Er lachte kurz auf, wurde dann aber sogleich wieder ernst.

„Anna hat mir von Harry erzählt. Davon, dass er nach London muss." Vorsichtig beobachtete er meine Reaktion, ich seufzte aber nur.

„Und sie hat gesagt, dass sie dich unterstützen wird, wenn du auch nach England willst."
Bis jetzt hatte er mir noch nichts Neues erzählt.

„Ich muss ehrlich zu dir sein, Feli. Dass deine Mutter mit mir nach Italien gegangen ist, war eines der besten Dinge in meinem Leben.
Aber ich bin definitiv nicht davon begeistert, wenn du einfach so nach England gehst.
Ja, das kann gut gehen. Aber was, wenn nicht? Ich kann es dir nicht verbieten, das weiß ich. Trotzdem sage ich dir klar und deutlich, dass ich es nicht gutheißen würde.
Auch wenn Anna dich unterstützt – und das werde ich auch tun, solltest du dich entscheiden, zu gehen -, habe ich kein gutes Gefühl dabei, meine kleine Tochter mal so ins Blaue hinein in eine andere Stadt in einem anderen Land mit ganz vielen fremden Menschen gehen zu lassen."

„Aber ich bin nicht mehr klein, Papa." Ein schwaches Lächeln huschte über das Gesicht meines Vaters.
„Ich weiß. Aber für mich wirst du immer meine kleine Tochter bleiben."
Auch ich grinste und meinte nur: „Ich weiß."
Dann verließ er die Küche wieder.

Doch ich blieb nicht lange allein. Kurze Zeit später marschierte Juli in die Küche – das war ja heute hier wie am Bahnhof!
„Ich hab Mama und Papa reden gehört.", er schnappte sich einen Stuhl, drehte ihn herum, setzte sich und stützte sein Kinn auf der Lehne ab.
Stumm zog ich meine linke Augenbraue hoch. „Über Harry und dich", präzisierte er. Ach, jetzt würde mein Bruder auch noch seinen Senf zu dieser Farce abgeben.
„Beziehungsweise darüber, dass Harry nach London zurückmuss." Diesen Satz hatte ich in den letzten Minuten irgendwie zu oft gehört.
Aber ich bedeutete ihm mit einer Handbewegung, weiterzusprechen.

„Also, ich wollte nicht lauschen oder so, ich konnte da nichts dafür.
Ich saß in aller Ruhe auf dem Klo, was sollte ich denn machen? Die Beiden haben sich einfach viel zu laut direkt vor dem Badezimmer unterhalten. Und flüchten konnte ich nicht, ich war noch nicht fertig", entrüstete Juli sich und schaffte es tatsächlich, mich zum Lachen zu bringen.
„Naja, so bist du wenigstens informiert", konstatierte ich.
„Aber was ist jetzt deine Meinung?"
„Keine Ahnung. Ich wollte dich nur nicht alleine lassen und dir sagen, dass ich für dich da bin. Wenn du hierbleibst in natura, wenn du gehst dann eben per WhatsApp Videochat." Ich stand auf und zog ihn in meine Arme.
„Ich hab dich lieb", murmelte ich, während ich seine Haare etwas verwuschelte.

In meiner Familie standen die Meinungen also unentschieden, was ich tun sollte. Ich war ja gespannt auf Claras Rat. Denn ich selbst hatte noch immer keine Ahnung, was ich tun würde.

Noch immer keine Lösung in Aussicht - dafür mal ganz überraschend alte Familiengeschichten, mit denen man selbst nie gerechnet hätte. Und was wird Clara wohl zu all dem sagen?

Bleibt gesund und nach Möglichkeit daheim!

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