24

93 5 0
                                    

Sah die Welt noch so düster aus, irgendwie verging die Woche.
Mit der Zeit hatte sich eine grobe Routine herauskristallisiert, jeden Abend telefonierte ich mit Harry. Von Tag zu Tag kletterte ich wieder ein kleines Stückchen weiter aus dem schwarzen Loch heraus, in das ich gefallen war. Tabby half mir dabei, indem sie meine trüben Gedanken wieder und wieder vertrieb – vielleicht tat sie dies oft eher unbewusst, aber sie war da.

Sie schneite in mein Zimmer und forderte meine sofortige Hilfe beim Kuchenbacken.
Sie lockerte die angespannte Stimmung mit wenigen flapsigen Kommentaren und sie schaltete bestimmt Lana del Rey aus und stattdessen Simple Plan ein.
Und sie sorgte dafür, dass wir immer Schokolade da hatten. Man könnte auch sagen, ich schuldete ihr etwas.
Etwas im Sinne von so viel, wie mein Budget gerade hergab – ich war schließlich Studentin, und obwohl ich in den Semesterferien immer jobbte, eher knapp bei Kasse.

Ehe ich mich dann versah, saß ich auch schon wieder im Zug. Mit einem Grinsen im Gesicht beobachtete ich die vorbeiziehenden Bäume.
Leider fühlten sich die zwei Stunden nicht wie zwei Stunden sondern eher wie fünf Tage an. Wieder einmal fühlte ich mich, als ob ich innerhalb kürzester Zeit Unmengen an Kaffee in mich hinein geschüttet hätte.
Hatte ich aber nicht, das war nur mein verwirrter Hormonhaushalt.

Schließlich begann ich, mir die Nägel zu lackieren.
Fragt mich bitte nicht, warum ich einen auberginefarbenen Nagellack in meiner Jackentasche hatte, ich weiß es selbst nicht.
Während ich also drei Sitze beschlagnahmt hatte (einen für mich, einen für meine Jacke und einen für meinen Rucksack), eroberte ich jetzt auch noch den Tisch.
Mit anderen Worten, ich verfrachtete die darauf liegenden Zeitschriften auf den letzten freien Sitz in meinem Vierer. Falls es euch interessiert, kann ich euch einen guten Tipp geben: Lackiert eure Nägel nicht im Zug.
Auch nicht, wenn euch langweilig ist und ihr es kaum erwarten könnt und alles an euch kribbelt und prickelt, als wäre anstatt Blut Champagner in euren Adern.
Vor allem nicht mit dunkelrot. Ihr seht danach aus, als hättet ihr jemanden umgebracht und seid weit weg vom eleganten Look, den ihr eigentlich wolltet.
Hätte man das mit zwanzig Jahren wissen können?
Reden wir einfach besser nicht über mein nicht vorhandenes Talent, mich wie eine reife Erwachsene zu verhalten.

Bitte.

Es ist besser so.

Und immerhin hatte das kleine Mädchen, das mir gebannt zuschaute, so auch gute Unterhaltung.
Ich hoffte einfach, dass es meine bei jeder Bodenwelle gemurmelten Flüche nicht gehört hatte – oder dass ihre Mutter keine Ahnung hatte, woher sie diese Ausdrücke kannte. Ich konnte es kaum erwarten, Haz endlich wieder zu sehen.
Schon Minuten bevor der Zug an der entsprechenden Haltestelle einfuhr hatte ich meine Sachen gepackt und stand bereit zum Aussteigen direkt an der Tür.
Dass diese Aktion völlig sinnlos war, weil ich ja noch mit dem Bummelbähnchen bis nach Kirchwald fahren musste, verdrängte ich.

An diesem Tag schienen mir die Götter gewogen, auch mein zweiter Zug hatte kaum Verspätung.
Diese paar Minuten fielen noch in meinen Kulanzbereich.
Dass ich auf dieser 15-Minuten-Strecke jeden Grashalm beim Namen kannte, schien mich auch zu beruhigen.
Und auch die Passagiere hatte ich teils schon öfter gesehen als meine Tanten und Onkel.

Da war die gestresste Mutter, welche immer eine Haltestelle nach mir einstieg. In diesem Waggon hatte ich schon Tobsuchtanfälle, Krokodilstränen und himmelhochjauchzende Freude bei ihren drei Kindern miterlebt.
In der Ecke saß der alte Mann mit Zylinder, welchen er, egal bei welchem Wetter, immer zu tragen schien.
Und auch die Fahrkartenkontrolleurin war eine alte Bekannte. Ich hatte keine Ahnung, wie sie hieß, aber ich sah sie seit zehn Jahren mehr oder minder regelmäßig.
Selbst die Löcher auf den abgenutzten Sitzen und die Kaugummis, welche in sämtlichen Ecken klebten, waren mir vertraut.
Obwohl ich nur wenige Tage weg gewesen war, schien mich alles zu Hause willkommen zu heißen.

MagicWo Geschichten leben. Entdecke jetzt