Kapitel 8 - Vergessene Vergangenheit

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"Hi Charlie!", sagt plötzlich eine Stimme hinter mir. Das erste was ich sehe, als ich mich umdrehe, sind türkisfarbene Augen.
"Hey!", sage. Zu mehr bin ich im Moment nicht imstande.
"Überrascht?", fragt Azure und lässt sich neben mir nieder.
"Eigentlich nicht besonders. Willst du was trinken? Ich lad dich ein."
"Gerne, danke!", lächelt sie.
Und das ist der Anfang einer nicht enden wollenden Unterhaltung. Wir reden und reden und reden. Es ist so seltsam, weil sie mir nicht wie eine Fremde vorkommt. Eher fühlt es sich an als würden wir uns schon länger kennen. Und genau das lässt mich den Abend so toll finden. Immer wenn ich etwas erzähle, blitzen ihre Augen neugierig auf und mustern mich aufmerksam. Wenn sie lacht wandert ihre Hand wie von selbst zu ihren Haaren, die sie sich aus dem Gesicht streicht, und die Stimmung im Raum scheint schlagartig noch viel besser zu werden. Ihre blauen Locken sehen im Dämmerlicht aus wie Meereswellen im Mondschein. Sie fallen ihr sanft über die Schultern. Ich ertappe mich oft dabei, wie ich mich frage, ob sie genauso weich sind, wie sie aussehen. Wenn sie redet, gestikuliert sie mit den Händen, was sie einfach wahnsinnig lebensfroh wirken lässt. Allgemein strahlt sie eine ungeheure Lebensfreude aus, die sich sofort auf mich überträgt. So glücklich hab ich mich schon lange nicht mehr gefühlt, wie jetzt.
"Kannst du Billard spielen?", fragt sie nach einer Weile.
"Ich konnte es mal, aber ich hab seit zwei Jahren nicht mehr gespielt. Keine Ahnung, ob ich das noch kann."
"Wir können es ja ausprobieren!", schlägt sie vor.
"Ja los! Jetzt blamier ich mich völlig."
"So ein Quatsch! Ich kann das doch auch nicht!", lacht sie.
"Na wenn das so ist...", sage ich und ziehe sie mit zu einem Billardtisch. Überraschenderweise hab ich doch nicht so viel verlernt, wie ich gedacht habe, denn für meine Verhältsnisse bin ich recht gut.
"Von wegen du kannst das nicht!", sagt sie, nachdem ich meine vierte Kugel versenkt habe.
"Ich wusste ja nicht, dass du noch schlechter bist als ich.", grinse ich und fange mir einen Schlag auf den Arm ein. Dann hält sie mir ihren Billardqueue vor die Nase.
"Pass auf, was du sagst. Ich bin bewaffnet!", sagt sie drohend.
"Oha! Jetzt hab ich aber Angst!", grinse ich sarkastisch, woraufhin sie mich nocheinmal schlägt und dann gleich drei Kugeln hintereinander in den Löchern verschwinden lässt.
"Was war das denn gerade?", frage ich fassungslos.
"Das, mein Lieber, war die Rache!", sagt sie, woraufhin ich sie skeptisch ansehe. "Ok, ich hab nicht die geringste Ahnung, wie ich das gerade gemacht habe.", lacht sie. "Aber ich hab langsam das Gefühl, ich werde besser!"
"Immerhin triffst du jetzt die Löcher!", lache ich. Sie wirft mir einen Killerblick zu.
"Dir macht es Spaß, mich fertig zu machen, oder?"
"Ich muss zugeben, dass es einen gewissen Reiz hat, ja!"
"Schön!", sagt sie beleidigt, aber ich sehe, dass sie sich nur schwer vom Lachen abhalten kann. Also schaue ich sie etwas herausfordernd an. Ihr Mund verzieht sich zuerst zu einem schmalen Lächeln, das langsam immer breiter wird und letztendlich damit endet, dass sie zu lachen anfängt. Und es ist das schönste, das ich je gehört habe. Glockenklar klingt es durch den Raum und ehe ich es mich versehe, muss ich auch mitlachen.

--- Deine Sicht ---
"Wie spät ist es denn eigentlich?", frage ich Charlie nach einer Weile. Wir sitzen mittlerweile wieder an der Bar und haben beide ein leeres Getränk vor uns stehen.
"Fast halb zwölf. Warum?"
"Ich krieg Hunger.", sage ich verlegen, woraufhin er lacht.
"Ich dachte schon, ich bin der einzige, der mitten in der Nacht Hunger bekommt." Überrascht sehe ich ihn an. "Wollen wir uns einen Laden suchen, der noch auf hat?", fragt er.
"Gerne! Aber ich kenne mich hier in der Gegend nicht gerade aus.", gestehe ich.
"Ich auch nicht, aber wir finden schon was.", meint er und drückt James schnell das Geld für unsere Getränke in die Hand. Dann reicht er mir meine Jacke und hilft mir ganz Gentleman-like beim Anziehen.
Als wir daraufhin ins Freie treten, stelle ich als erstes fest, dass es angefangen hat zu schneien. Feine Schneeflocken fallen vom Nachthimmel auf uns herab und legen sich auf meine Haare. Der Mond und die Sterne leuchten auf uns herab und lassen die dünne Schneeschicht vor unseren Füßen glitzern. Es ist einfach wunderschön.
"Kommst du?", fragt er sanft und legt mir eine Hand auf die Schulter. Sofort beginnt mein Herz wie wild zu pochen. Ich sehe ihn kurz an und folge ihm dann. Etwas ziellos irren wir durch die Straßen auf der Suche nach etwas Essbaren. Jedoch finden wir nichts, also setzen wir uns einfach in die nächste Bahn und fahren in die Innenstadt, wo wir uns kurze Zeit später auf einem Weihnachtsmarkt wiederfinden und mit Glühwein und Crêpe an einem kleinen Tisch sitzen. Jedoch fange ich trotz des heißen Glühweins bald an zu frieren.
"Ist dir kalt?", fragt Charlie sofort, als ich meinen Mantel enger um mich ziehe.
"Etwas.", gestehe ich. Ohne zu zögern legt er einen Arm um meine Schultern und zieht mich an sich. Meinen Kopf bette ich an seine Brust. Trotz der eisigen Temperaturen, kann ich die Wärme fühlen, die sein Körper ausstrahlt. Ich spüre, wie er sein Kinn auf meinen Kopf legt und mit der Hand über meinen Rücken fährt, um mich zu wärmen.
"Soll ich dich nach Hause bringen? Ich will ja nicht, dass du hier erfrierst.", fragt er, wobei ich seine Brust etwas von seiner Stimme vibrieren spüre.
"Ach was! Ein bisschen Bewegung und mir geht es wieder gut.", sage ich und sehe zu ihm hoch.
"Ich hätte eine Idee, wo wir hinkönnten.", sagt er grinsend.
"Und wohin?", frage ich neugierig.
"Komm mit!", sagt er dann, steht auf und hält mir seine Hand hin. Ich nehme sie und stehe auch auf. Ich dachte eigentlich, dass er meine Hand wieder loslässt, aber stattdessen hält er sie fest umschlossen.
Er führt mich um ein paar Hausecken, bis wir schließlich an einem kleinen Park ankommen. Die Wege sind mit Schotter ausgelegt, werden aber von einer Schneeschicht überzogen. Hand in Hand schlendern wir nebeneinander her über die Wege, die rechts und links von kleinen Lämpchen beleuchtet werden und den Park in ein geheimnisvolles blau hüllen. Die Bäume über uns sind wie die Wege von Schneeflocken bedeckt und lassen ihre kahlen Äste über die Wege hängen.
Schließlich kommen wir an eine Holzbrücke, die einen See überquert. Seine Oberfläche ist gefroren und ich kann sehen, wie sich die Sterne und der Mond darin spiegeln.
"Es ist wunderschön hier.", sage ich, als wir mitten auf der Brücke stehen bleiben und auf den gefrorenen See blicken. Kurz erschrecke ich, als er meine Hand loslässt, jedoch nur um sie mir nun um die Schultern zu legen und mich näher zu ihm zu ziehen. Ich lehne mich gegen ihn.
"Wahnsinn!", kommentiere ich die Aussicht.
Ich hätte nie gedacht, dass ein Mensch mein Herz so zum hämmern bringen könnte. Aber er schafft es problemlos. Und dafür muss er sich noch nicht einmal anstrengen. Ein Lächeln oder ein Augenkontakt genügt, um meine Denkfähigkeit einzuschränken. Ich muss ein gutes Stück nach oben schauen, um ihm anzusehen, denn schließlich ist er gut einen Kopf größer als ich. Seine braunen Augen glitzern, als er mich anschaut. Vereinzelte rote Haarsträhnen hängen ihm ins Gesicht und lassen ihn ziemlich locker und gelassen wirken. Trotz der eisigen Kälte fühle ich mich erstaunlich geborgen neben ihm.
"Da wären wir.", sage ich, als wir vor den großen Studentenwohnblock angekommen sind.
"Können wir uns mal wieder treffen?", fragt er. Ich nicke aufgeregt.
"Klar! Es hat viel Spaß gemacht."
"Mir auch. Gibst du mir deine Nummer?", fragt er und lächelt etwas unsicher. Verdammt süß!
"Natürlich.", sage ich und muss mich beherrschen, nicht vor Freude in die Luft zu springen.

--- Seine Sicht ---
Mit einem Knall appariere ich vor meine Wohnung am Rand Londons, die ich mir mit Ryan teile. So leise wie möglich schleiche ich hinein. Doch kaum hab ich die Tür geöffnet, steht mein verwirrt und wütend aussehender Mitbewohner mit verschränkten Armen vor mir.
"Wo warst du?", fragt er.
"Geht dich das was an?", frage ich rhetorisch und will mich an ihm vorbei in mein Zimmer schieben, aber er versperrt mir den Weg.
"Charlie! Es ist beinahe drei Uhr morgens und mich würde einfach mal interessieren, was du die letzten sieben Stunden so getrieben hast."
"Wie gesagt, das geht dich nichts an."
"Hast du dich mit einer Frau getroffen?", fragt er grinsend und bevor ich überhaupt über eine Antwort nachgedacht habe, wird sein Grinsen immer breiter.
"Oh man! Ich glaub ich spinne! Wie hat sie dich denn dazu gebracht? Ich versuch seit einem halben Jahr, dich aus der Bude zu schleifen und was hat es gebracht? Rein gar nichts.", plappert er aufgeregt und bemerkt gar nicht, wie ich mich an ihm vorbei in mein Zimmer geschoben und die Tür hinter mir geschlossen habe.
Ich wusste doch, dass das nicht gut enden wird, wenn Ryan davon weiß. Jetzt lässt er mich sicher nicht mehr in Ruhe. Müde lasse ich mich auf mein Bett fallen und lasse den Abend nocheinmal Revue passieren. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so glücklich war. Lächelnd schaue ich auf den neuen mit einem Sternchen markierten Kontakt in meinem Handy.

Die Wunde des BetrugsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt